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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 6. Der Beginn vom Ende
[G.] Auswanderung und Flucht

[6.19. Sudetenanschluss - brutaler Antisemitismus in den Gebieten der Ex-CSSR nach der Spaltung der CSSR - Niemandsland]

[Okt 1938: Invasion der deutschen Armee in die Sudetengebiete]

Das Problem der Massenauswanderung aus Deutschland und Österreich war mit einem anderen Opfer der Nazi-Barbarei verknüpft: Tschechoslowakei. Ende September 1938 verrieten die Westmächte die Tschechen in München an Hitler. Anfang Oktober wurden die deutschsprachigen Grenzgebiete der CSSR - Böhmen und Mähren, die so genannten Sudetengebiete - von den Deutschen besetzt.

[Ergänzung: Die deutsche Besetzung wurde von der deutschen Bevölkerung Willkommen geheissen, weil die Bevölkerung seit 1919 unter dem tschechischen Recht gelitten hatte, das durch das französische Diktat von Versailles im Vertrag von St-Germain aufgezwungen worden war. Jetzt war die deutsche Invasion durch die Konferenz in München und durch Premierminister Chamberlain bewilligt worden. Hitler gab im Gegenzug die Zusicherung, keine Kriege mehr zu führen. Das Gold der Nationalbank der CSSR wurde mit englischer Hilfe in Nazi-Hände geleitet (In: Jean Ziegler: Die Schweiz, das Gold und die Toten). Wenn Hitler jetzt gestorben wäre, dann wäre er für ganz Europa in bester Erinnerung geblieben (In: Eitner: Hitlers Deutsche)].

[Teilung der CSSR: Ungarn und Polen besetzen Gebiete - nationalistische Slowakei]

Bald danach besetzten die Ungarn den Süden der Slowakei und den Süden von Subkarpatien. Polen seinerseits besetzte ein Gebiet bei Tesín. Der demographische Charakter der Tschechoslowakei wurde zerstört. Die Slowakei wurde autonom, und die nationalistischen und beinahe faschistischen (S.260)

Tendenzen stiegen an. "Frage uns nicht nach Menschlichkeit", wurden die Vertreter in Berichten zitiert. "Wir wurden nicht mit Menschlichkeit behandelt."

(Endnote 94: R11, November 1938, Bericht von Noel Aronovici bei einem Besuch der Tschechoslowakei)

[Tschechische Flüchtlinge, darunter 15.000 Juden - 5-60,000 deutsche Juden bleiben in der Rest-Tschechei - Antisemitismus - Auswanderungspläne]

Die Anzahl tschechischer Flüchtlinge aus den besetzten Sudetengebieten wurde zwischen 180.000 und 200.000 geschätzt. Davon waren ungefähr 15.000 Juden. Zusätzlich waren da noch 5000 bis 6000 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich im Land.

Ungefähr 2/3 all dieser Flüchtlinge war mittellos und musste unterstützt werden. In der neuen, kleineren Tschechoslowakei Arbeit zu finden war praktisch unmöglich, denn es herrschte ein zügelloser Antisemitismus, und die Juden (von denen die meisten deutsch sprachen) wurden als ausländisches, germanisierendes Element angegriffen. Von den Juden selbst wurde erwartet, dass sie antijüdische Gesetze formulieren würden. Der Zugang an die Hochschulen und Universitäten wurde den Juden verboten, oder wenn sie schon registriert waren, wurden sie unter verschiedenen Vorwänden rausgeworfen. In der Folge machten die Juden - Flüchtlinge wie Eingesessene - grosse Anstrengungen, das Land zu verlassen.

[27. Jan 1939: Die tschechische Regierung verkündet die Auswanderung der ausländischen Flüchtlinge]

Am 27. Januar 1939 gab die rechte Regierung von Rudolf Beran eine Erklärung heraus, die eine schnelle Auswanderung der ausländischen Flüchtlinge verlangte; es wurde auch verkündet, dass die Regierung die Staatsbürgerschaft jener überprüfen würde, die seit dem Ersten Weltkrieg neue Staatsbürger geworden waren - eine Massnahme, die direkt gegen die Juden gerichtet war.

[Prag: Einrichtung einer zentralen, jüdischen Organisation unter Dr. Josef Popper - Hilfe für jüdische Flüchtlinge]

In dieser chaotischen und gefährlichen Situation wurde in Prag von den jüdischen Gemeinden eine zentrale Organisation eingerichtet, unter dem Vorsitz von Dr. Josef Popper. In den tschechischen Landesteilen führte Marie Schmolka das HICEM für Auswanderungsfragen. Das Jüdisch-soziale Institut, die Haupthilfsorganisation, musste an 1290 Personen Soforthilfe leisten. Allen anderen Personen gab die tschechische Regierung eine finanzielle Unterstützung von 8 Kronen pro Tag (ungefähr 30 Cents); jene, die sich nicht über Wasser halten konnten, wurden in Lager gesteckt.

In tschechischen Gebieten wurden nun 118.000 Juden zusammengebracht; es wurde ihnen gedroht, dass sie das Schicksal der deutschen Juden erleiden würden.

(Endnote 95: Karel Lagus und Josef Polak: Mesto za Mrízemi; Prag 1964, p.334)

Von den 136.000 Juden in der Slowakei von 1930 blieben bis 1930 noch 88.951; einige wanderten aus, aber der Rest wurde Ungarn angegliedert, so dass die Juden Ungarn wurden, als Resultat der Annexion von 1938.

(Endnote 96: Livia Rothkirchen: The Destruction of Slovak Jewry ["Die Zerstörung des slowakischen Judentums"] (Hebrew); Jerusalem 1961, S..9, 14 (englische Zusammenfassung, S.. vii, xiv)

Anfang 1939 arbeitete in Bratislava ein Zentrales Soziales Fürsorgekomitee unter Dr. Robert K. Füredi und Mrs. Gizi Fleischmann. Während des Krieges sollte letztere während des Krieges zu einer grossen (S.261)

Heldin der jüdischen Tragödie werden. Im Januar 1939 unterstützte dieses Komitee 3064 ausländische Flüchtlinge, die täglich versorgt werden mussten.

(Endnote 97:
-- 11-2, report, 2/3/39 [3. Februar 1939];
-- CON-2, report by Marjorie Katz, 2/12/38 [12. Februar 1938]; und
-- R11, siehe Endnote 94 oben)

[Juden werden vorübergehend ins Niemandsland getrieben - Kosice und andere Grenzregionen]

Eines der Hauptprobleme, das der Sudetenkrise folgte, war die schreckliche Not von Tausenden von Juden, die von den Deutschen, Slowaken, Ungarn, Polen, und sogar von Tschechen, ins Niemandsland getrieben wurden. Dies waren kleine Gebiete an den neuen Grenzen. 2000 solch Unglückliche wurden von den Slowaken bei Kosice in ein Niemandsland getrieben, eine Stadt, die in ungarische Hände überging. Die Ungarn trieben die meisten von ihnen zurück. Am Ende blieben 300 Flüchtlinge übrig, die zum grossen Teil staatenlos oder slowakische Juden waren. Sie verbrachten den slowakischen Herbst im Freien, ohne Dach über dem Kopf, ohne Lebensmittel, und ohne medizinische Versorgung.

Für diese Betroffenen wurde nun alles unternommen, um für sie Geld zu sammeln und die Grundbedürfnisse abzudecken. Nach vielen Interventionen akzeptierte die Slowakei schliesslich die meisten dieser Flüchtlinge.

(Endnote 98: siehe Endnote 94 oben [R11, November 1938, Bericht von Noel Aranovici auf einem Besuch in der Tschechoslowakei)

Hunderte weitere, so wurde berichtet, waren in den Grenzgebieten zwischen Österreich und Mähren, an den neuen Grenzen zwischen den Sudetenländern und den böhmischen Zentrumsgebieten und an weiteren Grenzen.

(Endnote 99: 11-4, 10/24/38 [24. Oktober 1938] Bericht)

Die genaue, gesamte Zahl der Betroffenen ist unmöglich festzusetzen, aber es können nicht weniger als 3-4000 Personen gewesen sein. Und es ging bis Januar 1939, mehr als 3 Monate nach München, bis die letzten dieser Leute schliesslich ein Aufnahmeland gefunden hatten, meistens in Flüchtlingslagern.

(Endnote 100: Executive Committee, 2/26/39 [26. Februar 1939]. Gemäss JTA [Jewish Telegraphic Agency] wurden schliesslich von den ungarischen und slowakischen Behörden 2700 Juden aus dem Niemandsland herausgeholt (1/23/39 [23. Januar 1939]).

[15. März 1939: NS-Besetzung der Rest-CSR - das JDC mit den sozialen Komitees in Prag und Bratislava - Auswanderungspläne]

Dann kam die Schlusskatastrophe. Am 15. März 1939 besetzte Deutschland die Rest-Tschechei; die Slowakei wurde unter einem deutschen Protektorat "unabhängig"; und Subkarpatien wurde Ungarn angegliedert. In Prag wurde Marie Schmolka nach dem Einmarsch in Prag sofort von den Nazis festgenommen; bis Mai wurde sie nicht freigelassen.

Die JDC-Politik in der Tschechoslowakei war es nun, die beiden sozialen Komitees in Prag und Bratislava zu unterstützen. Bis zum März übernahm das JDC 40 % des Budgets des Prager Sozialinstituts ("Prague Social Institute"). Nach dem März übernahm das JDC über 50 %.

(Endnote 101: 11-2, 6/8/39 [8. Juni 1939],  Memo über die Tschechoslowakei)

Auch in der Slowakei wurden in grossem Stil 2938 Flüchtlinge unterstützt, die komplett von Hilfe von aussen abhängig waren.

(Endnote 102: R59, Brief von Troper, 6/16/39 [16. Juni 1939])

In den tschechischen Landesteilen wurde ein Arrangement ähnlich wie in Deutschland und Österreich ausgearbeitet, wobei amerikanische Dollars nicht in deutsche Hände fliessen sollten (S.262)

aber die Kosten der Auswanderung würden gedeckt, während die Vermögen der Auswanderer dafür benutzt würden, die örtlichen Bedürfnisse zu decken. Die neuen Behörden in der Slowakei aber akzeptierten ein solches Abkommen nicht, und so wurde dort die direkte Hilfe nötig.

Troper telegraphierte am 15. Juni 1939 widerwillig an das Hauptbüro, dass eine einmalige Transaktion von 20.000 $ an die Slowakische Nationalbank unvermeidlich sei; am 16. telegraphierte New York das Einverständnis.

(Endnote 103: 11-2, Briefwechsel und Telegrammwechsel, 6/15/39-7/21/39 [15. Juni-21. Juli 1939]

In Prag liefe - wie wir gesehen haben - die Unterstützung des JDC indirekt, aber es wurden monatlich Raten von ungefähr 33.000 $ geleistet.

[April 1939-Ende 1939: Auswanderung von ungefähr 35.000 Juden aus Tschechien]

Die Hauptbeschäftigung der Komitees und des JDC war natürlich, so vielen Leuten wie möglich zur Auswanderung zu verhelfen, und dies so schnell wie möglich. Bis zum 15. März gab es eine grosse Konkurrenz zwischen den sudetendeutschen Nazi-Gegnern und Tschechen, wer zuerst das Land verlassen würde. Insgesamt konnten bis Ende 1939 ungefähr 35.000 Juden die tschechischen Landesteile verlassen.

Dies wurde durch den von der britischen Regierung unterstützten Fond ermöglicht, den Lord-Mayor-Fond, der 4 Millionen Pfund zur Verfügung hatte. Trotz der Tatsache, dass der Fond zu grossen Teilen für tschechische, innere Angelegenheiten genutzt wurde, so wurden doch kleine Beträge auch für die Auswanderung jüdischer Flüchtlinge verwendet. England war das Hauptziel der Auswanderer; Vertreter britischer Gruppen, die Quäker und andere, machten in Prag eine grosse Arbeit. Sie sortierten und wickelten die Anträge ab; sehr hilfreich war auch das Personal der britischen Botschaft.

[Illegale Auswanderung wird nicht erwähnt, ist aber sehr wahrscheinlich].

[Flucht ohne Visum von der NS-CSR - und ein Auswanderungszug ohne Visa]

Nichtsdestotrotz gab es doch Schwierigkeiten. In der Panik, die die Besetzung des Landes mit sich brachte, versuchten die Leute einfach zu fliehen, ohne sich um Visa zu kümmern. Im April fuhr ein Zug mit 160 Juden quer durch Deutschland und wurde erst an der holländischen Grenze angehalten, weil die Einwanderer keine Visa oder kein End-Auswanderungsland vorweisen konnten. Die Gestapo erklärte, dass der Zug bis zum 29. April Deutschland verlassen musste, ansonsten würden die Flüchtlinge verhaftet werden. Nur durch eine Welle von Formalitäten durch die Briten konnten diese Leute gerettet werden.

(Endnote 104: R60, Einleitung zum Bericht März-April 1939)

Die illegale Auswanderung nach Palästina wuchs ebenso wieder an; andere Personen überschritten als tschechische Flüchtlinge die Grenze nach Polen, um dann von Polen mit einer Deportation in Gestapo-Hände bedroht zu werden.

(Endnote 105: 11-5, Bericht von Smolar, 6/9/39 [9. Juni 1939])

Die deutschen förderten die jüdische Auswanderung mit (S.263)

denselben Methoden, wie sie auch anderswo erfolgreich waren, und im Juli 1939 richteten sie in Prag einen Zweig der Zentralstelle für jüdische Auswanderung ein.

[Ab März 1939: Wieder werden Juden ins Niemandsland getrieben - Hilfe]

Nach dem März wiederholte sich für kleine Gruppen die Tragödie, in ein Niemandsland getrieben zu werden. Die Deutschen vertrieben die Juden aus tschechischen Landesteilen, und an der polnischen Grenze wiederholten sich die Szenen vom Herbst 1938. In all diesen Fällen musste das Prager Sozialinstitut intervenieren, um die Betroffenen am Leben zu erhalten.

(Endnote 106: 11-5, Telegramm von Troper, 6/15/39 [15. Juni 1939])

Als im September 1939 sich über dem unglücklichen Land der Vorhang schloss, wurde das Schicksal des tschechischen Judentums dasselbe wie in Deutschland und Österreich.

Wohin konnten die Juden von Zentraleuropa noch gehen? Kein Land wollte die von Panik gezeichneten jüdischen Flüchtlinge ohne die nötigen Formalitäten aufnehmen, und auch auf sorgfältige Kontrolle wurde nicht verzichtet. Eigentlich wollte niemand verarmte Juden haben.







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