[G.]
Auswanderung und Flucht
[6.19. Sudetenanschluss - brutaler
Antisemitismus in den Gebieten der Ex-CSSR nach der
Spaltung der CSSR - Niemandsland]
[Okt 1938: Invasion der
deutschen Armee in die Sudetengebiete]
Das Problem der Massenauswanderung aus Deutschland und
Österreich war mit einem anderen Opfer der Nazi-Barbarei
verknüpft: Tschechoslowakei. Ende September 1938 verrieten
die Westmächte die Tschechen in München an Hitler. Anfang
Oktober wurden die deutschsprachigen Grenzgebiete der CSSR
- Böhmen und Mähren, die so genannten Sudetengebiete - von
den Deutschen besetzt.
[Ergänzung: Die deutsche Besetzung wurde von der deutschen
Bevölkerung Willkommen geheissen, weil die Bevölkerung
seit 1919 unter dem tschechischen Recht gelitten hatte,
das durch das französische Diktat von Versailles im
Vertrag von St-Germain aufgezwungen worden war. Jetzt war
die deutsche Invasion durch die Konferenz in München und
durch Premierminister Chamberlain bewilligt worden. Hitler
gab im Gegenzug die Zusicherung, keine Kriege mehr zu
führen. Das Gold der Nationalbank der CSSR wurde mit
englischer Hilfe in Nazi-Hände geleitet (In: Jean Ziegler:
Die Schweiz, das Gold und die Toten). Wenn Hitler jetzt
gestorben wäre, dann wäre er für ganz Europa in bester
Erinnerung geblieben (In: Eitner: Hitlers Deutsche)].
[Teilung der CSSR: Ungarn
und Polen besetzen Gebiete - nationalistische Slowakei]
Bald danach besetzten die Ungarn den Süden der Slowakei
und den Süden von Subkarpatien. Polen seinerseits besetzte
ein Gebiet bei Tesín. Der demographische Charakter der
Tschechoslowakei wurde zerstört. Die Slowakei wurde
autonom, und die nationalistischen und beinahe
faschistischen (S.260)
Tendenzen stiegen an. "Frage uns nicht nach
Menschlichkeit", wurden die Vertreter in Berichten
zitiert. "Wir wurden nicht mit Menschlichkeit behandelt."
(Endnote 94: R11, November 1938, Bericht von Noel
Aronovici bei einem Besuch der Tschechoslowakei)
[Tschechische
Flüchtlinge, darunter 15.000 Juden - 5-60,000 deutsche
Juden bleiben in der Rest-Tschechei - Antisemitismus -
Auswanderungspläne]
Die Anzahl tschechischer Flüchtlinge aus den besetzten
Sudetengebieten wurde zwischen 180.000 und 200.000
geschätzt. Davon waren ungefähr 15.000 Juden. Zusätzlich
waren da noch 5000 bis 6000 Flüchtlinge aus Deutschland
und Österreich im Land.
Ungefähr 2/3 all dieser Flüchtlinge war mittellos und
musste unterstützt werden. In der neuen, kleineren
Tschechoslowakei Arbeit zu finden war praktisch unmöglich,
denn es herrschte ein zügelloser Antisemitismus, und die
Juden (von denen die meisten deutsch sprachen) wurden als
ausländisches, germanisierendes Element angegriffen. Von
den Juden selbst wurde erwartet, dass sie antijüdische
Gesetze formulieren würden. Der Zugang an die Hochschulen
und Universitäten wurde den Juden verboten, oder wenn sie
schon registriert waren, wurden sie unter verschiedenen
Vorwänden rausgeworfen. In der Folge machten die Juden -
Flüchtlinge wie Eingesessene - grosse Anstrengungen, das
Land zu verlassen.
[27. Jan 1939: Die
tschechische Regierung verkündet die Auswanderung der
ausländischen Flüchtlinge]
Am 27. Januar 1939 gab die rechte Regierung von Rudolf
Beran eine Erklärung heraus, die eine schnelle
Auswanderung der ausländischen Flüchtlinge verlangte; es
wurde auch verkündet, dass die Regierung die
Staatsbürgerschaft jener überprüfen würde, die seit dem
Ersten Weltkrieg neue Staatsbürger geworden waren - eine
Massnahme, die direkt gegen die Juden gerichtet war.
[Prag: Einrichtung einer
zentralen, jüdischen Organisation unter Dr. Josef Popper
- Hilfe für jüdische Flüchtlinge]
In dieser chaotischen und gefährlichen Situation wurde in
Prag von den jüdischen Gemeinden eine zentrale
Organisation eingerichtet, unter dem Vorsitz von Dr. Josef
Popper. In den tschechischen Landesteilen führte Marie
Schmolka das HICEM für Auswanderungsfragen. Das
Jüdisch-soziale Institut, die Haupthilfsorganisation,
musste an 1290 Personen Soforthilfe leisten. Allen anderen
Personen gab die tschechische Regierung eine finanzielle
Unterstützung von 8 Kronen pro Tag (ungefähr 30 Cents);
jene, die sich nicht über Wasser halten konnten, wurden in
Lager gesteckt.
In tschechischen Gebieten wurden nun 118.000 Juden
zusammengebracht; es wurde ihnen gedroht, dass sie das
Schicksal der deutschen Juden erleiden würden.
(Endnote 95: Karel Lagus und Josef Polak: Mesto za
Mrízemi; Prag 1964, p.334)
Von den 136.000 Juden in der Slowakei von 1930 blieben bis
1930 noch 88.951; einige wanderten aus, aber der Rest
wurde Ungarn angegliedert, so dass die Juden Ungarn
wurden, als Resultat der Annexion von 1938.
(Endnote 96: Livia Rothkirchen: The Destruction of Slovak
Jewry ["Die Zerstörung des slowakischen Judentums"]
(Hebrew); Jerusalem 1961, S..9, 14 (englische
Zusammenfassung, S.. vii, xiv)
Anfang 1939 arbeitete in Bratislava ein Zentrales Soziales
Fürsorgekomitee unter Dr. Robert K. Füredi und Mrs. Gizi
Fleischmann. Während des Krieges sollte letztere während
des Krieges zu einer grossen (S.261)
Heldin der jüdischen Tragödie werden. Im Januar 1939
unterstützte dieses Komitee 3064 ausländische Flüchtlinge,
die täglich versorgt werden mussten.
(Endnote 97:
-- 11-2, report, 2/3/39 [3. Februar 1939];
-- CON-2, report by Marjorie Katz, 2/12/38 [12. Februar
1938]; und
-- R11, siehe Endnote 94 oben)
[Juden werden
vorübergehend ins Niemandsland getrieben - Kosice und
andere Grenzregionen]
Eines der Hauptprobleme, das der Sudetenkrise folgte, war
die schreckliche Not von Tausenden von Juden, die von den
Deutschen, Slowaken, Ungarn, Polen, und sogar von
Tschechen, ins Niemandsland getrieben wurden. Dies waren
kleine Gebiete an den neuen Grenzen. 2000 solch
Unglückliche wurden von den Slowaken bei Kosice in ein
Niemandsland getrieben, eine Stadt, die in ungarische
Hände überging. Die Ungarn trieben die meisten von ihnen
zurück. Am Ende blieben 300 Flüchtlinge übrig, die zum
grossen Teil staatenlos oder slowakische Juden waren. Sie
verbrachten den slowakischen Herbst im Freien, ohne Dach
über dem Kopf, ohne Lebensmittel, und ohne medizinische
Versorgung.
Für diese Betroffenen wurde nun alles unternommen, um für
sie Geld zu sammeln und die Grundbedürfnisse abzudecken.
Nach vielen Interventionen akzeptierte die Slowakei
schliesslich die meisten dieser Flüchtlinge.
(Endnote 98: siehe Endnote 94 oben [R11, November 1938,
Bericht von Noel Aranovici auf einem Besuch in der
Tschechoslowakei)
Hunderte weitere, so wurde berichtet, waren in den
Grenzgebieten zwischen Österreich und Mähren, an den neuen
Grenzen zwischen den Sudetenländern und den böhmischen
Zentrumsgebieten und an weiteren Grenzen.
(Endnote 99: 11-4, 10/24/38 [24. Oktober 1938] Bericht)
Die genaue, gesamte Zahl der Betroffenen ist unmöglich
festzusetzen, aber es können nicht weniger als 3-4000
Personen gewesen sein. Und es ging bis Januar 1939, mehr
als 3 Monate nach München, bis die letzten dieser Leute
schliesslich ein Aufnahmeland gefunden hatten, meistens in
Flüchtlingslagern.
(Endnote 100: Executive Committee, 2/26/39 [26. Februar
1939]. Gemäss JTA [Jewish Telegraphic Agency] wurden
schliesslich von den ungarischen und slowakischen Behörden
2700 Juden aus dem Niemandsland herausgeholt (1/23/39 [23.
Januar 1939]).
[15. März 1939:
NS-Besetzung der Rest-CSR - das JDC mit den sozialen
Komitees in Prag und Bratislava - Auswanderungspläne]
Dann kam die Schlusskatastrophe. Am 15. März 1939 besetzte
Deutschland die Rest-Tschechei; die Slowakei wurde unter
einem deutschen Protektorat "unabhängig"; und Subkarpatien
wurde Ungarn angegliedert. In Prag wurde Marie Schmolka
nach dem Einmarsch in Prag sofort von den Nazis
festgenommen; bis Mai wurde sie nicht freigelassen.
Die JDC-Politik in der Tschechoslowakei war es nun, die
beiden sozialen Komitees in Prag und Bratislava zu
unterstützen. Bis zum März übernahm das JDC 40 % des
Budgets des Prager Sozialinstituts ("Prague Social
Institute"). Nach dem März übernahm das JDC über 50 %.
(Endnote 101: 11-2, 6/8/39 [8. Juni 1939], Memo über
die Tschechoslowakei)
Auch in der Slowakei wurden in grossem Stil 2938
Flüchtlinge unterstützt, die komplett von Hilfe von aussen
abhängig waren.
(Endnote 102: R59, Brief von Troper, 6/16/39 [16. Juni
1939])
In den tschechischen Landesteilen wurde ein Arrangement
ähnlich wie in Deutschland und Österreich ausgearbeitet,
wobei amerikanische Dollars nicht in deutsche Hände
fliessen sollten (S.262)
aber die Kosten der Auswanderung würden gedeckt, während
die Vermögen der Auswanderer dafür benutzt würden, die
örtlichen Bedürfnisse zu decken. Die neuen Behörden in der
Slowakei aber akzeptierten ein solches Abkommen nicht, und
so wurde dort die direkte Hilfe nötig.
Troper telegraphierte am 15. Juni 1939 widerwillig an das
Hauptbüro, dass eine einmalige Transaktion von 20.000 $ an
die Slowakische Nationalbank unvermeidlich sei; am 16.
telegraphierte New York das Einverständnis.
(Endnote 103: 11-2, Briefwechsel und Telegrammwechsel,
6/15/39-7/21/39 [15. Juni-21. Juli 1939]
In Prag liefe - wie wir gesehen haben - die Unterstützung
des JDC indirekt, aber es wurden monatlich Raten von
ungefähr 33.000 $ geleistet.
[April 1939-Ende 1939:
Auswanderung von ungefähr 35.000 Juden aus Tschechien]
Die Hauptbeschäftigung der Komitees und des JDC war
natürlich, so vielen Leuten wie möglich zur Auswanderung
zu verhelfen, und dies so schnell wie möglich. Bis zum 15.
März gab es eine grosse Konkurrenz zwischen den
sudetendeutschen Nazi-Gegnern und Tschechen, wer zuerst
das Land verlassen würde. Insgesamt konnten bis Ende 1939
ungefähr 35.000 Juden die tschechischen Landesteile
verlassen.
Dies wurde durch den von der britischen Regierung
unterstützten Fond ermöglicht, den Lord-Mayor-Fond, der 4
Millionen Pfund zur Verfügung hatte. Trotz der Tatsache,
dass der Fond zu grossen Teilen für tschechische, innere
Angelegenheiten genutzt wurde, so wurden doch kleine
Beträge auch für die Auswanderung jüdischer Flüchtlinge
verwendet. England war das Hauptziel der Auswanderer;
Vertreter britischer Gruppen, die Quäker und andere,
machten in Prag eine grosse Arbeit. Sie sortierten und
wickelten die Anträge ab; sehr hilfreich war auch das
Personal der britischen Botschaft.
[Illegale Auswanderung wird nicht erwähnt, ist aber sehr
wahrscheinlich].
[Flucht ohne Visum von
der NS-CSR - und ein Auswanderungszug ohne Visa]
Nichtsdestotrotz gab es doch Schwierigkeiten. In der
Panik, die die Besetzung des Landes mit sich brachte,
versuchten die Leute einfach zu fliehen, ohne sich um Visa
zu kümmern. Im April fuhr ein Zug mit 160 Juden quer durch
Deutschland und wurde erst an der holländischen Grenze
angehalten, weil die Einwanderer keine Visa oder kein
End-Auswanderungsland vorweisen konnten. Die Gestapo
erklärte, dass der Zug bis zum 29. April Deutschland
verlassen musste, ansonsten würden die Flüchtlinge
verhaftet werden. Nur durch eine Welle von Formalitäten
durch die Briten konnten diese Leute gerettet werden.
(Endnote 104: R60, Einleitung zum Bericht März-April 1939)
Die illegale Auswanderung nach Palästina wuchs ebenso
wieder an; andere Personen überschritten als tschechische
Flüchtlinge die Grenze nach Polen, um dann von Polen mit
einer Deportation in Gestapo-Hände bedroht zu werden.
(Endnote 105: 11-5, Bericht von Smolar, 6/9/39 [9. Juni
1939])
Die deutschen förderten die jüdische Auswanderung mit
(S.263)
denselben Methoden, wie sie auch anderswo erfolgreich
waren, und im Juli 1939 richteten sie in Prag einen Zweig
der Zentralstelle für jüdische Auswanderung ein.
[Ab März 1939: Wieder
werden Juden ins Niemandsland getrieben - Hilfe]
Nach dem März wiederholte sich für kleine Gruppen die
Tragödie, in ein Niemandsland getrieben zu werden. Die
Deutschen vertrieben die Juden aus tschechischen
Landesteilen, und an der polnischen Grenze wiederholten
sich die Szenen vom Herbst 1938. In all diesen Fällen
musste das Prager Sozialinstitut intervenieren, um die
Betroffenen am Leben zu erhalten.
(Endnote 106: 11-5, Telegramm von Troper, 6/15/39 [15.
Juni 1939])
Als im September 1939 sich über dem unglücklichen Land der
Vorhang schloss, wurde das Schicksal des tschechischen
Judentums dasselbe wie in Deutschland und Österreich.
Wohin konnten die Juden von Zentraleuropa noch gehen? Kein
Land wollte die von Panik gezeichneten jüdischen
Flüchtlinge ohne die nötigen Formalitäten aufnehmen, und
auch auf sorgfältige Kontrolle wurde nicht verzichtet.
Eigentlich wollte niemand verarmte Juden haben.