[D.] Die
Flüchtlinge
[6.13. Polen: Auswanderungskomitees für die
Juden 1938 - keine (offiziellen) Auswanderungsplätze -
Madagaskarplan]
[Nov 1938: Polen:
Einrichtung des Jüdischen Auswanderungs- und
Kolonisationskomitees - und ein Komitee der Freunde zur
Unterstützung der jüdischen Auswanderung nach
Madagaskar]
Nun hatten die Polen aber ihre Lektion wirklich gelernt.
Wenn Deutschland es gelang, mit Gestapo-Methoden Juden
loszuwerden, so konnten die Polen auch bald dasselbe tun.
In den ersten Novembertagen zwang die Regierung den
anerkannten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Polen,
Rabbi Moshe Schorr, ein jüdisches Auswanderungs- und
Kolonisationskomitee einzurichten. Die Polen gaben der
Organisation die Aufgabe, 3 Mio. Zloty zu sammeln, und die
Organisation sollte alles tun, die jüdischen
Organisationen im Ausland zu überzeugen, um möglichst
grosse Mengen polnischer Juden auswandern zu lassen. Im
Grossen und Ganzen boykottierten die Zionisten dieses
(S.247)
Komitee; aber ihren Führern, Henryk Rosmarin, Ansselm
Reiss, und Moshe Kleinbaum, wurde klipp und klar gesagt,
dass die Regierung nicht gedenke, Palästina als den
einzigen Zielort der polnisch-jüdischen Auswanderung zu
betrachten. "Wenn sich Deutschland die Brutalitäten
erlaubt, uns für Juden bezahlen zu lassen, so werden
ähnliche Methoden auch in diesem Land angewandt werden, um
die jüdische Auswanderung aus Polen zu fördern."
(Endnote 67: R10, Bericht von Troper und Smoler, 12/2/38
[2. Dezember 1938])
In Übereinstimmung mit diesem Denkansatz, und um den Druck
auf die Juden zu erhöhen, setzte die polnische Regierung
auch ein nichtjüdisches Komitee der Freunde der jüdischen
Auswanderung nach Madagaskar ein.
Die Hauptaufgabe der Mitglieder des jüdischen Komitees war
- neben der Geldsammlerei - ins Ausland zu reisen und
Verhandlungen über die Auswanderung von so vielen Juden
wie möglich zu führen. Innerhalb eines Monats - bis
Dezember 1938 - war ein Drittel der geforderten Summe von
3 Mio. Zloty zusammen. Das Geld wurde von wohlhabenden
jüdischen Einzelpersonen in Polen gespendet.
[Das JDC kann der
polnischen Aktion für Auswanderungskomitees nur
zuschauen]
Der neue Vorsitzende des JDC in Europa, Morris C. Troper,
sah keine Möglichkeiten, der neuen polnischen Haltung
entgegenzutreten. Am 20. Dezember 1938 schrieb er Hyman,
dass bei einer Unvermeidlichkeit des polnischen
Auswanderungsdrucks das Komitee zumindest bis zuletzt in
den Händen sein sollte, die für das JDC zugänglich waren.
(Endnote 68: 44-3).
[Wettbewerb beim
Spendensammeln für die polnischen Juden zwischen AFPJ,
WJC und JDC]
Schorr und Rosmarin waren mit der Amerikanischen
Gesellschaft der Polnischen Juden (American Federation of
Polish Jews [AFPJ]) und mit dem Jüdischen Weltkongress
(World Jewish Congress [WJC]) verbunden. Das Konzept des
WJC war dem Konzept des JDC konträr entgegengesetzt. Der
WJC strebte nämlich eine Einheit eines weltweiten,
jüdischen Volkes an und wollte dafür eine weltweite,
politische Maschinerie aufbauen mit der Behauptung, die
Juden weltweit vertreten zu können. Der WJC und die AFPJ
versuchten in Amerika ebenso, für die europäischen Juden
Geld zu sammeln, im Wettbewerb mit dem JDC. Schorr und
Rosmarin waren deshalb inakzeptabel, und Troper schlug
vor, dass drei vom JDC annehmbare Industrielle in die USA
eingeladen werden sollten, einer davon war Karol Sachs,
ein sehr reicher jüdischer Industrieller aus Lodz.
Das New Yorker Büro, wie auch das JDC-Büro in Warschau,
waren nicht bestrebt, in die Auswanderungsproblematik von
Polen voll einzusteigen, zumindest nicht unter solch
polnischem Druck. Es gab wahrlich einen langsamen, aber
entscheidenden Wechsel, was die Meinung des JDC zur
Auswanderung generell betraf. Der polnische Antisemitismus
schien im Jahr 1939 weniger betont, (S.248)
und es wurde angenommen, dass die Polen "etwas den Wölfen
vorwerfen müssten".
(Endnote 69: 44-21, Komitee über Polen und Osteuropa
("Committee on Poland and East Europe"), 2/8/39 [8.
Februar 1939])
Adler dachte, es sei sehr einfach, den Leuten zu sagen,
sie sollten nicht auswandern, wenn man als Jude aus
Amerika käme. "Aber wenn ihnen die Existenz aberkannt
wird, dann ist die einzige Chance die Auswanderung."
(Endnote 70: 44-29; Adler an Hyman, 2/9/39 [9. Februar
1939])
[Die
Auswanderungsorganisationen können für 3 Mio. polnische
Juden keine Auswanderungsländer finden - die US-Quote
bleibt bei 6000 jährlich]
Das Problem war natürlich, wohin man gehen sollte, und wie
man sich eigentlich auf die Auswanderung vorbereiten
sollte. In Polen selbst war die Betonung auf die
Berufsausbildung für die Auswanderungsländer in Übersee
nichts Neues. Ein Bericht vom März 1939 aus Galizien
betonte, dass "wir nirgendwo die Erlaubnis haben, neue
Wurzeln zu schlagen, und wir sind gezwungen zu erwägen,
unsere Kinder und die Jugend als zukünftige Exportartikel
zu betrachten. Wir müssen dabei versuchen, erste Qualität
zu liefern."
(Endnote 71: 14-39; Bericht aus Galizien)
Aber in der Welt von 1939 war auch erste Qualität nicht
genug. Palästina war fast zu. Die polnische Quote für die
USA betrug 6000 im Jahr. Südamerikanische Länder sträubten
sich, Juden zu akzeptieren. Die Welt war nicht gewillt,
den drei Millionen Juden zu helfen.
[Illegale Auswanderung ist nicht erwähnt, aber sehr
wahrscheinlich].
[1939: Idee von George
Backer, dass Juden eine Kolonie kaufen sollen]
In dieser verzweifelten Lage wurden auch über verzweifelte
Lösungen nachgedacht, z.B. auch in solch hohen Rängen wie
dem JDC-Büros in New York. George Backer, der mit beiden
Organisationen, JDC und dem Amerikanisch-jüdischen
Komitee, zu tun hatte, schlug den Polen vor, eine Kolonie
zu kaufen, voraussichtlich in Afrika, wo die Juden siedeln
könnten. der polnische Botschafter, so berichtet er,
antwortet enthusiastisch auf diesen Vorschlag.
(Endnote 72: 44-21, Komitee über Polen und Osteuropa,
2/8/39 [8. Februar 1939])
[Jan 1939: Schorr in
London - JDC-Arbeit in Polen soll nicht gefährdet werden
- das JDC will Schorr nicht sehen - Schorr warnt in
London vor einer absoluten Diskriminierung der Juden]
In der Zwischenzeit, es war inzwischen Ende Januar 1939,
reisten Rabbi Schorr und weiter nach London. Wenn sie in
die USA kommen würden, dann würde die Situation für das
JDC schwierig werden. Das JDC konnte keine
Auswanderungsplätze anbieten, und für solche grossen
Unternehmungen fehlte auch das Geld, auch wenn es Plätze
gegeben hätte. Eine Auswanderungskampagne könnte auch der
kleindimensionierten, aber lebenswichtigen Arbeit des JDC
in Polen gefährden. Dies bedeutete gleichzeitig, dass
keine Auswanderung folgte, und die Massen polnischer
Juden, die zu diesem Zeitpunkt eine kleine Hilfe durch das
JDC bekamen, würden dann verlassen dastehen.
Deshalb beschloss das JDC, dass ein Besuch durch die
polnische Delegation zu vermeiden sei.
Im Februar 1939 berichtete Troper an Hyman, dass er er
einem Besuch zuvorgekommen sei, und dass die Delegation
ihre Probleme in London besprechen würde. Dort berichtete
die Delegation offensichtlich, dass die Polen (S.249)
mit antijüdischer Gesetzgebung gedroht hätten, wenn man
mit der Auswanderung nicht weiterkäme. Eine solche
Gesetzgebung würde eine "Revision" der Staatsbürgerschaft
und die Eliminierung der Juden aus dem wirtschaftlichen
und kulturellen Leben Polens beinhalten.
(Endnote 73: 44-29; Troper an Hyman, 2/14/39 [14. Februar
1939]; 44-4, Memo über Polen, 5/1/39 [1. Mai 1939])
Da gab es für den JDC nicht mehr viel, wo man hätte helfen
können.