[D.] Die
Flüchtlinge
[6.12. Deutsch-polnische Aktion gegen Juden
1938: Das Lager in Zbaszyn (Bentschen)]
[25. März 1938: Polen
erklärt alle Pässe von Polen für ungültig, die länger
als 5 Jahre im Ausland leben]
Am 25. März 1938 verabschiedete das polnische Parlament
(Sejm) ein Gesetz in Bezug auf polnische Bürger, die Polen
seit fünf aufeinanderfolgenden Jahren nicht mehr besucht
hatten. Diesen Leuten sollte die Staatsbürgerschaft
aberkannt werden, es sei denn, dass der Pass erneuert
würde. Das eigentliche Ziel dieses Gesetzes war (S.243)
zu verhindern, dass polnische Juden in Wien nach Polen
zurückkamen, nachdem Österreich am 13. März 1938 besetzt
worden war.
[15. Juni 1938: Polen:
Verkündigung, dass polnische Juden aus Wien in KZs
gebracht würden]
Am 15. Juni [1938] berichtete die Polnische
Telegraphengesellschaft, dass jene polnischen Juden aus
Wien, denen trotzdem das Überschreiten der polnischen
Grenze gelungen war, ins polnische Konzentrationslager
Bereza Kartuska gebracht würden.
[1933: NS-Deutschland:
98.747 Juden ausländischer Nationalität - 56.480
polnische Juden]
Unter den im Jahr 1933 annähernd 500.000 Juden in
Deutschland [dies ist die offizielle Zählung ohne
Halbjuden, Vierteljuden und ohne 3/4-Juden], gab es 98.747
Juden ausländischer Nationalität. Von diesen waren 56.480
polnische Juden.
(Endnote 62: S. Adler-Rudel: Ostjuden in Deutschland;
Tübingen 1959, S. 166)
[Okt 1938:
Staatenlosigkeit von 56.480 polnischen Juden in
NS-Deutschland]
Die verzweifelten Versuche von vielen dieser Juden, der
Staatenlosigkeit zu entgehen, hatten keinen Erfolg; ihre
Nationalität wurde Ende Oktober 1938 aberkannt, so dass
sie ab dann als staatenlos galten.
Die Nazi-Regierung, die so viele Juden wie möglich
loswerden wollte, sah den polnischen Schritt als eine
Bedrohung für ihre eigene antijüdische Politik. Wenn sie
nichts tun würden, dann könnte man diese Juden vielleicht
nicht mehr nach Polen ausschaffen, weil die Polen dann
argumentieren würden, dass die Betroffenen nicht mehr
polnische Bürger waren.
Eine der Hauptleitlinien des Nazi-Parteiprogramms von 1920
war, Deutschland von Ausländern zu befreien, und an erster
Stelle galt dies für die Juden. Ideologisch gesehen
bestand deshalb für die Nazis höchste Alarmstufe, einem
Daueraufenthalt der polnischen Juden in Deutschland
zuvorzukommen.
[Aber es scheint doch, dass die NS-Regierung die
polnischen Juden bis 1938 toleriert hat].
[6. Okt 1938: Polen
verkündet, dass die Pässe bis 29. Oktober erneuert
werden können]
Am 6. Oktober [1938] beschloss die polnische Regierung,
dass jene, die ihren Pass nicht bis 29. Oktober erneuert
hätten, ihre Staatsbürgerschaft verlieren würden.
[26. Okt 1938: Das
NS-Aussenministerium fragt die Gestapo an, die
polnischen Juden zurückzuschicken]
Am 26. Oktober fragte das deutsche Aussenministerium von
der Gestapo, so viele polnische Juden wie nur möglich aus
Deutschland gewaltsam zu vertreiben.
(Endnote 63:
-- ebenda [S. Adler-Rudel: Ostjuden in Deutschland;
Tübingen 1959], S.153
-- Raphael Mahler: Ringelblums Briefe von und über Zbaszyn
[Bentschen] (Hebrew): Yalkut Moreshet 2 (Mai 1964: 14 ff.)
[27./28. Okt 1938: Reich:
17.000 polnische Juden werden nach Polen deportiert]
Die Gestapo, sah sich - wie immer prompt und brutal - zur
Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet, und in der Nacht
vom 27. auf den 28. Oktober wurden in Deutschland 17.000
polnische Juden gefangengenommen, einige noch in ihren
Nachtkleidern. Viele wurden geschlagen. Sie wurden auf
spezielle Züge verfrachtet und an die polnische Grenze
gefahren. Dort wurden einige von den Deutschen gezwungen,
die Grenze illegal zu überqueren; die meisten aber wurden
in Eisenbahnwagen einfach über die Grenze geschoben.
Einige der Flüchtlinge hatten noch Familienbeziehungen
oder andere Verbindungen nach Polen und konnten mit
einfachen Massnahmen einen Wohnsitz in Polen finden.
Andere aber hatten weniger Glück. Leute, die Polen vor
Dutzenden von Jahren verlassen hatten, oder die nie in
Polen gelebt hatte, sondern die ihre
Staatsbürgerschaft (S.244)
[Nov 1938: 12.800
jüdische heimatlose Deportierte aus NS-Deutschland in
Polen - Zbaszyn (Bentschen) wird ein Freiluftgefängnis
für etwa 5500 polnische Juden aus NS-Deutschland -
Zahlen]
einfach von ihren Eltern geerbt hatten, fanden keinen
Bleibeort. Bis Anfang November zählte das JDC-Büro 12.800
heimatlose Flüchtlinge im ganzen Land. Es gab kleine
Gruppen dieser Flüchtlinge in den jüdischen Hauptzentren
wie Lodz, Warschau und Krakau. An diesen Orten wurden
örtliche Flüchtlingskomitees gegründet, um für die Leute
so gut wie möglich zu sorgen.
Der schlimmste Platz aber war ein kleines Dorf von
ungefähr 4000 Einwohnern, Zbaszyn [Bentschen], an der
Haupteisenbahnstrecke zwischen Frankfurt an der Oder und
Poznan [Posen]. Es lag auf der polnischen Seite der
polnisch-deutschen Grenze. Die Deutschen hatten dort 9300
Männer, Frauen und Kinder über die Grenze geschoben;
annähernd 4000 gelang es, innert 48 Stunden in Polen einen
Weg zu finden.
Die Polen waren nicht gewillt, den Rest, ungefähr 5500,
nach Polen einzulassen und zwangen sie, in dem Dorf zu
bleiben. Die Lage wurde furchtbar, denn die Anzahl der
Flüchtlinge war grösser als die Bevölkerung des Dorfes.
Sie mussten in Pferdeställen, Schweineställen und in
anderen vorübergehenden Behausungen untergebracht werden.
Der November ist in Polen ein sehr kalter Monat, und nach
den ersten paar Tagen gab es nun auch noch Probleme
bezüglich Betten, Heizung, warmes Essen, sanitäre Anlagen
und bezüglich medizinischer Versorgung. Die Flüchtlinge
waren total hilflos, denn die polnische Regierung liess
sie nicht ins Innere des Landes weiterziehen.
[Zbaszyn (Bentschen) wurde nun für sie zum
Freiluftgefängnis].
[Das polnische Judentum
über die polnischen Juden aus Deutschland -
Hilfsaktionen vom JDC und anderen - die Hilfe von
Ringelblum]
Das polnische Judentum seinerseits reagierte ziemlich
schnell. Am 4. November wurde in Warschau ein Hilfskomitee
eingerichtet, das an Ort und Stelle grosse Geldsummen
sammelte. Bis Juli 1939 waren 3,5 Mio. Zloty gesammelt,
wobei das JDC 20 % beisteuerte.
(Endnote 64: Germany-refugees in Poland, report: the
Activity of the General Aid Committee for Jewish Refugees
from Germany in Poland (Bericht über die deutschen
Flüchtlinge in Polen: Die Aktivitäten des
Haupthilfekomitees für jüdische Flüchtlinge aus
Deutschland in Polen), 11/1/38-7/1/39 [1. November 1938-1.
Juli 1939]. Der totale Sammlungsbetrag betrug 3.543.299
Zloty, von denen das JDC 721.149 beisteuerte, und andere
ausländische Quellen gaben 539.725).
Daneben wurden auch Sachleistungen gespendet, die in
dieser Zeit einen Wert von 1 Million Zlotys zusätzlich
ausmachten.
Der Kampf um die Flüchtlinge von Zbaszyn [Bentschen] war
so wichtig, dass die finanziellen Überlegungen dadurch
ziemlich beeinflusst wurden. Das JDC in Polen beschloss,
von der Politik, die es die 1930er Jahre immer betrieben
hatte, abzuweichen. Sofort nach der Nachricht der Ankunft
der Flüchtlinge eilten Giterman und der berühmte
Historiker Emanuel Ringelblum, der ein JDC-Angestellter
war, sofort nach Bentschen. Mit lokaler Hilfe
organisierten sie die ersten Massnahmen.
Während der Monate (S.245)
November und Dezember kontrollierte das JDC-Personal die
Hilfsaktivitäten in Bentschen direkt. Die üblichen
Spielregeln schienen sich verändert zu haben:
Normalerweise verteilte das JDC Geld, und die lokalen
Komitees machten die Arbeit vor Ort; in diesem Fall aber
kam das lokale Warschauer Komitee für den Hauptteil der
Gelder auf, und das JDC-Personal verrichtete die aktuelle
Arbeit mit der Organisieren und Kontrolle der Hilfe.
Gitermans Politik in Bentschen war nicht, zuerst
permanente Strukturen für die Flüchtlinge aufzubauen,
bevor es die polnische Regierung nicht für nötig fand,
Bentschen als ein permanentes Flüchtlingslager zu
betrachten.
(Endnote 65: 29-Germany, polnische Deportationen ("Polish
deportations"), Zbaszyn, Bericht von Giterman, November
1938)
Aber die Politik mit dem Versuch, Druck auf die polnische
Regierung auszuüben, etwas zu unternehmen, schadete den
Flüchtlingen mehr als der Regierung, die sogar jegliche
Nahrungsmittellieferungen ablehnte.
[Dezember 1938: Kalter
Winter in Bentschen - JDC-Hilfe durch Ringelblum]
In den ersten Dezembertagen kam eine intensive Kälte auf,
und es gab keine andere Wahl, als angemessene Unterkunft
und Ernährung zu befehlen. Es wurden entsprechende neue
Unterkünfte gebaut.
Nach den ersten 10 Tagen verliess Giterman das Dorf, dafür
kam Ringelblum, der mit einem ihm angegliederten Personal
von ungefähr 10 Leuten blieb. Im Namen des JDC
organisierte er die Essensausgabe, Heizung, erste Hilfe,
Verteilung von Kleidern (gesammelt in ganz Polen),
Auswanderungshilfe und ähnliche wichtige Sachen. Er
organisierte eine Bibliothek, Schulunterricht für Kinder,
eine talmudische Torah für die orthodoxen Kinder, Konzerte
und Vorlesungen.
Offensichtlich sammelte er historisches Material über die
Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland; leider
hat uns dieses Material nicht erreicht.
[Ende 1938: 5200
polnische Juden aus NS-Deutschland in Bentschen]
Trotz wiederholten Interventionen durch das Warschauer
Komitee liessen die Polen nur weniger der Flüchtlinge ins
Land, und Ende Jahr hielten sich in Bentschen immer noch
5200 Flüchtlinge auf.
[Finanzfragen um das
Freiluftgefängnis von Bentschen]
Ein Aspekt der Krise in Bentschen war die wachsende
Spannung zwischen dem polnisch-jüdischen Komitee und dem
JDC. Giterman gab am 21. Dezember in einem Telegramm die
Position des JDC durch: "Wir werden nur dann Hilfe geben,
wenn die lokalen Organisationen alle ihre Mittel
aufgebraucht haben." In den USA aber hatte die neue
Situation ihre Wirkung: Nach dem Entstehen der neuen
Situation wurde für die Flüchtlinge in Polen viel Geld
gespendet. Im Frühjahr 1939 klagte das Warschauer
Flüchtlingskomitee, dass nur 15 % der Gelder (S.246) bis
dahin von ausländischen Organisationen bestritten worden
waren, darunter das JDC, während der ganze Rest von der
verarmten polnischen jüdischen Gemeinde kommen musste.
Der Vorsitzende des Polnischen Komitees des JDC, Alexander
Kahn in New York, war beunruhigt. Er sagte: "Unsere
Position ist unhaltbar, wenn wir hier Spendensammlungen
für die deutschen Deportierten betreiben und nur
vernachlässigbare Summen an die tatsächlich Bedürftigen
ausgeben."
(Endnote 66: ebenda. [29-Germany, polnische Deportationen
("Polish deportations"), Zbaszyn, Bericht von Giterman,
November 1938], Zitat von Hyman an das JDC in Paris,
1/20/39 [20. Januar 1939])
[1939: Mehr Geld für
Bentschen]
Womöglich als ein Resultat der wiederholten Interventionen
des New Yorker Büros wuchsen im Jahre 1939 die Ausgaben
des JDC für Bentschen.
[Erste Junitage 1939:
4000 polnische Juden in Bentschen]
Bis in die ersten Junitage [1939] waren immer noch 4000
Juden in Bentschen, und ungefähr 40.000 $ wurden dort pro
Monat benötigt. Trotzdem war das JDC in Polen vorsichtig;
es war nicht komplett von der Korrektheit der Statistiken
des Warschauer Komitees überzeugt, und da waren nebenbei
inzwischen weitere Vorgänge am Laufen, die das Problem
beträchtlich komplizierter machten.
[Polens Aktionspläne
gegen Deutsche]
Die polnische Regierung war über die gesamte Situation
extrem unglücklich. Sie versuchte es, den Deutschen mit
gleicher Münze heimzuzahlen und drohte nun, deutsche
Bürger aus Polen auszuweisen, speziell deutsch-jüdische
Flüchtlinge, die in den davorgehenden Jahren aus
Deutschland gekommen waren. In dieser tragischen Situation
zweier sich feindlich gegenüberstehender antisemitischer
Staaten wurden nun die Juden des jeweils einen Staates im
jeweils anderen Staat misshandelt.
[24. Jan 1939: Abkommen
über den Stopp von Vertreibungen - vorübergehender
Aufenthalt der Vertriebenen in Deutschland zur Regelung
persönlicher Angelegenheiten]
Am 24. Januar 1939 vereinbarten beide Länder einen Ausweg
aus der Krise (zumindest temporär). Es sollten keine neuen
Vertreibungen mehr stattfinden, und die jüdischen
Vertriebenen sollten einen beschränkten Aufenthalt in
Deutschland gewährt bekommen, um ihre dortigen
Angelegenheiten zu regeln, oder um sich eine Auswanderung
in weitere Länder zu organisieren.