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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 6. Der Beginn vom Ende
[D.] Die Flüchtlinge

[6.12. Deutsch-polnische Aktion gegen Juden 1938: Das Lager in Zbaszyn (Bentschen)]

[25. März 1938: Polen erklärt alle Pässe von Polen für ungültig, die länger als 5 Jahre im Ausland leben]

Am 25. März 1938 verabschiedete das polnische Parlament (Sejm) ein Gesetz in Bezug auf polnische Bürger, die Polen seit fünf aufeinanderfolgenden Jahren nicht mehr besucht hatten. Diesen Leuten sollte die Staatsbürgerschaft aberkannt werden, es sei denn, dass der Pass erneuert würde. Das eigentliche Ziel dieses Gesetzes war (S.243)

zu verhindern, dass polnische Juden in Wien nach Polen zurückkamen, nachdem Österreich am 13. März 1938 besetzt worden war.

[15. Juni 1938: Polen: Verkündigung, dass polnische Juden aus Wien in KZs gebracht würden]
Am 15. Juni [1938] berichtete die Polnische Telegraphengesellschaft, dass jene polnischen Juden aus Wien, denen trotzdem das Überschreiten der polnischen Grenze gelungen war, ins polnische Konzentrationslager Bereza Kartuska gebracht würden.

[1933: NS-Deutschland: 98.747 Juden ausländischer Nationalität - 56.480 polnische Juden]

Unter den im Jahr 1933 annähernd 500.000 Juden in Deutschland [dies ist die offizielle Zählung ohne Halbjuden, Vierteljuden und ohne 3/4-Juden], gab es 98.747 Juden ausländischer Nationalität. Von diesen waren 56.480 polnische Juden.

(Endnote 62: S. Adler-Rudel: Ostjuden in Deutschland; Tübingen 1959, S. 166)

[Okt 1938: Staatenlosigkeit von 56.480 polnischen Juden in NS-Deutschland]

Die verzweifelten Versuche von vielen dieser Juden, der Staatenlosigkeit zu entgehen, hatten keinen Erfolg; ihre Nationalität wurde Ende Oktober 1938 aberkannt, so dass sie ab dann als staatenlos galten.

Die Nazi-Regierung, die so viele Juden wie möglich loswerden wollte, sah den polnischen Schritt als eine Bedrohung für ihre eigene antijüdische Politik. Wenn sie nichts tun würden, dann könnte man diese Juden vielleicht nicht mehr nach Polen ausschaffen, weil die Polen dann argumentieren würden, dass die Betroffenen nicht mehr polnische Bürger waren.

Eine der Hauptleitlinien des Nazi-Parteiprogramms von 1920 war, Deutschland von Ausländern zu befreien, und an erster Stelle galt dies für die Juden. Ideologisch gesehen bestand deshalb für die Nazis höchste Alarmstufe, einem Daueraufenthalt der polnischen Juden in Deutschland zuvorzukommen.

[Aber es scheint doch, dass die NS-Regierung die polnischen Juden bis 1938 toleriert hat].

[6. Okt 1938: Polen verkündet, dass die Pässe bis 29. Oktober erneuert werden können]
Am 6. Oktober [1938] beschloss die polnische Regierung, dass jene, die ihren Pass nicht bis 29. Oktober erneuert hätten, ihre Staatsbürgerschaft verlieren würden.

[26. Okt 1938: Das NS-Aussenministerium fragt die Gestapo an, die polnischen Juden zurückzuschicken]

Am 26. Oktober fragte das deutsche Aussenministerium von der Gestapo, so viele polnische Juden wie nur möglich aus Deutschland gewaltsam zu vertreiben.

(Endnote 63:
-- ebenda [S. Adler-Rudel: Ostjuden in Deutschland; Tübingen 1959], S.153
-- Raphael Mahler: Ringelblums Briefe von und über Zbaszyn [Bentschen] (Hebrew): Yalkut Moreshet 2 (Mai 1964: 14 ff.)

[27./28. Okt 1938: Reich: 17.000 polnische Juden werden nach Polen deportiert]

Die Gestapo, sah sich - wie immer prompt und brutal - zur Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet, und in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober wurden in Deutschland 17.000 polnische Juden gefangengenommen, einige noch in ihren Nachtkleidern. Viele wurden geschlagen. Sie wurden auf spezielle Züge verfrachtet und an die polnische Grenze gefahren. Dort wurden einige von den Deutschen gezwungen, die Grenze illegal zu überqueren; die meisten aber wurden in Eisenbahnwagen einfach über die Grenze geschoben.

Einige der Flüchtlinge hatten noch Familienbeziehungen oder andere Verbindungen nach Polen und konnten mit einfachen Massnahmen einen Wohnsitz in Polen finden. Andere aber hatten weniger Glück. Leute, die Polen vor Dutzenden von Jahren verlassen hatten, oder die nie in Polen gelebt hatte, sondern die ihre Staatsbürgerschaft  (S.244)

[Nov 1938: 12.800 jüdische heimatlose Deportierte aus NS-Deutschland in Polen - Zbaszyn (Bentschen) wird ein Freiluftgefängnis für etwa 5500 polnische Juden aus NS-Deutschland - Zahlen]

einfach von ihren Eltern geerbt hatten, fanden keinen Bleibeort. Bis Anfang November zählte das JDC-Büro 12.800 heimatlose Flüchtlinge im ganzen Land. Es gab kleine Gruppen dieser Flüchtlinge in den jüdischen Hauptzentren wie Lodz, Warschau und Krakau. An diesen Orten wurden örtliche Flüchtlingskomitees gegründet, um für die Leute so gut wie möglich zu sorgen.

Der schlimmste Platz aber war ein kleines Dorf von ungefähr 4000 Einwohnern, Zbaszyn [Bentschen], an der Haupteisenbahnstrecke zwischen Frankfurt an der Oder und Poznan [Posen]. Es lag auf der polnischen Seite der polnisch-deutschen Grenze. Die Deutschen hatten dort 9300 Männer, Frauen und Kinder über die Grenze geschoben; annähernd 4000 gelang es, innert 48 Stunden in Polen einen Weg zu finden.

Die Polen waren nicht gewillt, den Rest, ungefähr 5500, nach Polen einzulassen und zwangen sie, in dem Dorf zu bleiben. Die Lage wurde furchtbar, denn die Anzahl der Flüchtlinge war grösser als die Bevölkerung des Dorfes. Sie mussten in Pferdeställen, Schweineställen und in anderen vorübergehenden Behausungen untergebracht werden.

Der November ist in Polen ein sehr kalter Monat, und nach den ersten paar Tagen gab es nun auch noch Probleme bezüglich Betten, Heizung, warmes Essen, sanitäre Anlagen und bezüglich medizinischer Versorgung. Die Flüchtlinge waren total hilflos, denn die polnische Regierung liess sie nicht ins Innere des Landes weiterziehen.

[Zbaszyn (Bentschen) wurde nun für sie zum Freiluftgefängnis].

[Das polnische Judentum über die polnischen Juden aus Deutschland - Hilfsaktionen vom JDC und anderen - die Hilfe von Ringelblum]

Das polnische Judentum seinerseits reagierte ziemlich schnell. Am 4. November wurde in Warschau ein Hilfskomitee eingerichtet, das an Ort und Stelle grosse Geldsummen sammelte. Bis Juli 1939 waren 3,5 Mio. Zloty gesammelt, wobei das JDC 20 % beisteuerte.

(Endnote 64: Germany-refugees in Poland, report: the Activity of the General Aid Committee for Jewish Refugees from Germany in Poland (Bericht über die deutschen Flüchtlinge in Polen: Die Aktivitäten des Haupthilfekomitees für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in Polen), 11/1/38-7/1/39 [1. November 1938-1. Juli 1939]. Der totale Sammlungsbetrag betrug 3.543.299 Zloty, von denen das JDC 721.149 beisteuerte, und andere ausländische Quellen gaben 539.725).

Daneben wurden auch Sachleistungen gespendet, die in dieser Zeit einen Wert von 1 Million Zlotys zusätzlich ausmachten.

Der Kampf um die Flüchtlinge von Zbaszyn [Bentschen] war so wichtig, dass die finanziellen Überlegungen dadurch ziemlich beeinflusst wurden. Das JDC in Polen beschloss, von der Politik, die es die 1930er Jahre immer betrieben hatte, abzuweichen. Sofort nach der Nachricht der Ankunft der Flüchtlinge eilten Giterman und der berühmte Historiker Emanuel Ringelblum, der ein JDC-Angestellter war, sofort nach Bentschen. Mit lokaler Hilfe organisierten sie die ersten Massnahmen.

Während der Monate (S.245)

November und Dezember kontrollierte das JDC-Personal die Hilfsaktivitäten in Bentschen direkt. Die üblichen Spielregeln schienen sich verändert zu haben: Normalerweise verteilte das JDC Geld, und die lokalen Komitees machten die Arbeit vor Ort; in diesem Fall aber kam das lokale Warschauer Komitee für den Hauptteil der Gelder auf, und das JDC-Personal verrichtete die aktuelle Arbeit mit der Organisieren und Kontrolle der Hilfe.

Gitermans Politik in Bentschen war nicht, zuerst permanente Strukturen für die Flüchtlinge aufzubauen, bevor es die polnische Regierung nicht für nötig fand, Bentschen als ein permanentes Flüchtlingslager zu betrachten.

(Endnote 65: 29-Germany, polnische Deportationen ("Polish deportations"), Zbaszyn, Bericht von Giterman, November 1938)

Aber die Politik mit dem Versuch, Druck auf die polnische Regierung auszuüben, etwas zu unternehmen, schadete den Flüchtlingen mehr als der Regierung, die sogar jegliche Nahrungsmittellieferungen ablehnte.

[Dezember 1938: Kalter Winter in Bentschen - JDC-Hilfe durch Ringelblum]

In den ersten Dezembertagen kam eine intensive Kälte auf, und es gab keine andere Wahl, als angemessene Unterkunft und Ernährung zu befehlen. Es wurden entsprechende neue Unterkünfte gebaut.

Nach den ersten 10 Tagen verliess Giterman das Dorf, dafür kam Ringelblum, der mit einem ihm angegliederten Personal von ungefähr 10 Leuten blieb. Im Namen des JDC organisierte er die Essensausgabe, Heizung, erste Hilfe, Verteilung von Kleidern (gesammelt in ganz Polen), Auswanderungshilfe und ähnliche wichtige Sachen. Er organisierte eine Bibliothek, Schulunterricht für Kinder, eine talmudische Torah für die orthodoxen Kinder, Konzerte und Vorlesungen.
Offensichtlich sammelte er historisches Material über die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland; leider hat uns dieses Material nicht erreicht.

[Ende 1938: 5200 polnische Juden aus NS-Deutschland in Bentschen]
Trotz wiederholten Interventionen durch das Warschauer Komitee liessen die Polen nur weniger der Flüchtlinge ins Land, und Ende Jahr hielten sich in Bentschen immer noch 5200 Flüchtlinge auf.

[Finanzfragen um das Freiluftgefängnis von Bentschen]

Ein Aspekt der Krise in Bentschen war die wachsende Spannung zwischen dem polnisch-jüdischen Komitee und dem JDC. Giterman gab am 21. Dezember in einem Telegramm die Position des JDC durch: "Wir werden nur dann Hilfe geben, wenn die lokalen Organisationen alle ihre Mittel aufgebraucht haben." In den USA aber hatte die neue Situation ihre Wirkung: Nach dem Entstehen der neuen Situation wurde für die Flüchtlinge in Polen viel Geld gespendet. Im Frühjahr 1939 klagte das Warschauer Flüchtlingskomitee, dass nur 15 % der Gelder (S.246) bis dahin von ausländischen Organisationen bestritten worden waren, darunter das JDC, während der ganze Rest von der verarmten polnischen jüdischen Gemeinde kommen musste.

Der Vorsitzende des Polnischen Komitees des JDC, Alexander Kahn in New York, war beunruhigt. Er sagte: "Unsere Position ist unhaltbar, wenn wir hier Spendensammlungen für die deutschen Deportierten betreiben und nur vernachlässigbare Summen an die tatsächlich Bedürftigen ausgeben."

(Endnote 66: ebenda. [29-Germany, polnische Deportationen ("Polish deportations"), Zbaszyn, Bericht von Giterman, November 1938], Zitat von Hyman an das JDC in Paris, 1/20/39 [20. Januar 1939])

[1939: Mehr Geld für Bentschen]
Womöglich als ein Resultat der wiederholten Interventionen des New Yorker Büros wuchsen im Jahre 1939 die Ausgaben des JDC für Bentschen.

[Erste Junitage 1939: 4000 polnische Juden in Bentschen]

Bis in die ersten Junitage [1939] waren immer noch 4000 Juden in Bentschen, und ungefähr 40.000 $ wurden dort pro Monat benötigt. Trotzdem war das JDC in Polen vorsichtig; es war nicht komplett von der Korrektheit der Statistiken des Warschauer Komitees überzeugt, und da waren nebenbei inzwischen weitere Vorgänge am Laufen, die das Problem beträchtlich komplizierter machten.

[Polens Aktionspläne gegen Deutsche]

Die polnische Regierung war über die gesamte Situation extrem unglücklich. Sie versuchte es, den Deutschen mit gleicher Münze heimzuzahlen und drohte nun, deutsche Bürger aus Polen auszuweisen, speziell deutsch-jüdische Flüchtlinge, die in den davorgehenden Jahren aus Deutschland gekommen waren. In dieser tragischen Situation zweier sich feindlich gegenüberstehender antisemitischer Staaten wurden nun die Juden des jeweils einen Staates im jeweils anderen Staat misshandelt.

[24. Jan 1939: Abkommen über den Stopp von Vertreibungen - vorübergehender Aufenthalt der Vertriebenen in Deutschland zur Regelung persönlicher Angelegenheiten]

Am 24. Januar 1939 vereinbarten beide Länder einen Ausweg aus der Krise (zumindest temporär). Es sollten keine neuen Vertreibungen mehr stattfinden, und die jüdischen Vertriebenen sollten einen beschränkten Aufenthalt in Deutschland gewährt bekommen, um ihre dortigen Angelegenheiten zu regeln, oder um sich eine Auswanderung in weitere Länder zu organisieren.







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