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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 6. Der Beginn vom Ende
[D.] Die Flüchtlinge

[6.10. Schweiz 1938: Lager für jüdische Flüchtlinge - Übergabe an das Reich - und Geldfragen]

[1938: Schweiz: 6 Lager für deutsch-jüdische, mittellose Flüchtlinge]

Auch in der Schweiz verursachte der Zustrom von Flüchtlingen aus Österreich eine scharfe Reaktion. Trotz der im März und April getroffenen Massnahmen überquerten Juden weiterhin die schweizer Grenze [weil auch die Schlepper auf den Profit mit Flüchtlingen nicht verzichten wollten]. Der VSIA [Verein Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen] kümmerte sich um jene (S.239)

denen die Flucht gelang und errichtete im Jahr 1938 sechs Lager, wo 877 mittellose Flüchtlinge untergebracht waren.

(Endnote 51: Saly Mayer Ordner (SM), VSIA-2)

[Juli-15. August 1938: Ankunft von ungefähr 2300 deutsch-jüdischen Flüchtlingen]

Durch den Juli und in der ersten Hälfte des August [1938] gelang etwa 2300 jüdischen Flüchtlingen der illegale Grenzübertritt.

[mit Hilfe der Schlepper, die von den jüdischen Flüchtlingen gut bezahlt wurden].

[15. Aug 1938: Berlin kündigt an, dass ab 1. Jan 1939 alle Österreicher Deutsche sind - die schweizer Regierung überlegt Massnahmen gegen die österreichisch-deutsch-jüdischen Flüchtlinge]

Seit März mussten die Inhaber österreichischer Pässe für die Einreise in die Schweiz ein Visum haben. Nun verkündete ein Dekret Deutschlands vom 15. August, dass ab 1. Januar 1939 alle österreichischen Pässe in deutsche Pässe umgetauscht würden, und die Inhaber deutscher Pässe könnten weiterhin ohne Visum in die Schweiz einreisen. Die schweizer Regierung traf deshalb einer Reihe von Massnahmen gegen den Flüchtlingsstrom.

[10. August 1938: Die Schweiz schliesst die Grenze für deutsch-jüdische Flüchtlinge - die Übergabe an die Deutschen wird vermieden, wenn Konzentrationslager droht]

Am 10. August etablierte ein polizeiliches Rundschreiben an die Grenzpolizeistationen eine Politik, den Flüchtlingen den Eintritt ins Land zu verweigern.

Am selben Datum unterbreitete der schweizer Polizeichef seiner Regierung einen Bericht; darin stellte er fest, dass Flüchtlinge, die sagten, dass sie bei einer Rückkehr nach Deutschland in ein Konzentrationslager interniert werden würden, nicht an die Deutschen ausgeliefert würden.

Das Problem war, was man mit den Illegalen machen sollte, die sich bereits im Land befanden. Er dachte, dass sie nach Deutschland ausgeschafft werden sollten, aber er wagte nicht, diesen Schritt zu unternehmen, weil es "in allen zivilisierten Ländern einen fürchterlichen Aufschrei gegen die Schweiz geben" könnte.

(Endnote 52: Ludwig, op. cit. Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S. 86-87)

[Aber die zivilisierten Staaten waren GAR NICHT zivilisiert, sondern sie bereiteten in Europa alle einen Krieg gegen die Sowjetunion vor].

[17. August 1938: Schweiz: Konferenz der Polizeibeamten - Konzentrationslager-Drohung zählt nicht mehr]

Eine Konferenz der Polizeibeamten am 17. August bestätigte diese Politik, die dann durch die schweizer Regierung am 19. August verabschiedet wurde.

(Endnote 53: ebenda [Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S. 90)

Die jetzige Entscheidung aber ging schon weiter, denn nun sollte überhaupt keine Flüchtlingseinwanderung von Österreich mehr stattfinden, und alle Ausnahmeregelungen für Personen, die mit Konzentrationslager bedroht waren, wurden aufgehoben.

Die Position des schweizer Judentums in all diesen Angelegenheiten war ziemlich schwierig. Bei einer allgemeinen Sitzung des VSIA [Verein Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen] wurde festgestellt, dass, während die Situation der Flüchtlinge tragisch war, die schweizer Politik und die wirtschaftlichen Interessen nicht ignoriert werden sollten.

[Grosse Teile der schweizer Oberschicht hatten meist in Deutschland studiert und waren sehr antisemitisch, unterstützten Nazi-Heime in der Schweiz, und die ganze Schweiz hing von der deutschen Kohle ab, um im Winter zu heizen].

[Feb 1938: Gerüchte dass der SIG keine jüdischen Flüchtlinge mehr will]

Zum gleichen Zeitpunkt aber wies der Leiter des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG, Saly Mayer, sehr energisch Gerüchte zurück, die besagten, dass die obersten Ränge der schweizerisch-jüdischen Gemeinde der Regierung mitgeteilt hätten, dass das schweizer Judentum den weiteren Flüchtlingsstrom ins Land ablehne. "Das Gesetz von 'Liebe deinen Nachbarn' ist immer noch die Leitlinie unseres Tuns, und wir müssen so viel als möglich für unsere Brüder zu erreichen versuchen, die in Schwierigkeiten sind."

(Endnote 54: Saly Mayers Erklärung an den SIG im Februar 1938, SM, VSIA-2)

[Aber die linken, jiddischen Juden sind überhaupt nicht willkommen].

Dies wurde aber einen Monat vor dem Anschluss gesagt. Danach änderte die Situation. Die wirtschaftliche Last durch den plötzlichen Zustrom tausender Flüchtlinge konnte durch die kleine schweizerisch-jüdische Gemeinde nicht gehalten werden. Während einige der Einwanderer in andere Länder weiterreisten, und andere für ihren eigenen Unterhalt sorgen konnten und somit für die Gemeinde nicht zur Belastung wurden,

[Okt 1938: Schweiz: 2400 jüdische Flüchtlinge an der Fürsorge]
so mussten bis Oktober 1938 2400 unterstützt werden.

(Endnote 55: ebenda [Saly Mayers Erklärung an den SIG im Februar 1938, SM, VSIA-2])

Der SIG gab an, er sei technisch und finanziell nicht in der Lage, einen weiteren Zustrom zu unterstützen.

(Endnote 56: Dies wurde wiederholt in Appellen an den JDC vom März 1938 angegeben).

[19.August 1938: Die Schweiz schliesst die Grenzen - das VSIA warnt die IKG, keine Flüchtlinge mehr zu schicken]

Am selben Tag des 19. August [1938], als die schweizer Regierung ihre Entscheidung fällte, die Grenzen zu schliessen, telegraphierte der VSIA der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien eine Warnung, nicht noch mehr illegale Flüchtlinge zu schicken (alle Flüchtlinge waren illegal, weil kein österreichischer Jude eine legale Einreiseerlaubnis in die Schweiz bekommen konnte, ausser für einen Transit in ein anderes Land, oder wenn er viel Geld in der Schweiz hatte).

(Endnote 57: SM, VSIA-2)

In anderen Worten fühlte das schweizerischer Judentum, dass es dem offiziellen, schweizerischen Druck nachgeben musste und seinen Part in der offiziellen flüchtlingsfeindlichen Politik spielen musste.

[Ende 1938: 10-12.000 deutsch-jüdische Flüchtlinge in der Schweiz - die Polizei händigt sie teilweise an die NS-deutsche Seite aus]

Bis Ende 1938 waren es 10-12.000 jüdische Flüchtlinge, die in der Schweiz steckenblieben. Tragödien an den Grenzen wurden zur Tagesordnung; die Flüchtlinge wehrten sich physisch gegen ihre Ausschaffung in deutsche Hände. Aber natürlich hatte solcher Widerstand keinen Zweck.

(Endnote 58: Ibid. [SM, VSIA-2])

[Fragen um Geld des JDC für jüdische Flüchtlinge in der Schweiz, Luxemburg, Belgien und in der Tschechoslowakei]

In dieser Notlage wandte sich das schweizerische Judentum über Saly Mayer an das JDC. In einem Telegramm am 25. August [1938] berichtete Kahn an das JDC, dass die schweizer Juden 1 Millionen Schweizer Franken benötigten, aber dass nur ein Drittel dieser Summe vor Ort aufgebracht werden könnte. Die Reaktion in New York war, dass lokale Quellen zuerst verbraucht werden sollten, weil das Einkommen des JDC auf solch grosse Notfälle nicht eingestellt war. Dann teilte New York Kahn mit, dass man die das Überstaatliche Flüchtlingskomitee (ICR, engl. "Intergovernmental Committee on Refugees") angehen könnte. "Wir denken immer wieder, dass eine Regelung solcher Schwierigkeiten mit Flüchtlingen schnell viele andere ermuntern wird, die Grenzen zu überschreiten."

Aber Kahn hatte eine andere Ansicht. Er verkündete seinem Hauptbüro, dass ihm nicht nur in der Schweiz Nothilfe gewährt werden sollte, sondern auch in Luxemburg, Belgien, und in der Tschechoslowakei. Baerwald dachte, dass diese Zuwendungen "schwankten", und er lehnte ab. Kahn reagierte scharf: Am 26. August erklärte er in einem kurzen Telegramm, dass es absolut zwingend sei, den Goodwill der jüdischen wie der nichtjüdischen (S.241)

Institutionen zu erhalten. "(Das) ganze Verzeichnis (der) JDC-Aktivitäten besteht (aus einer) vorausgehenden Unterstützung von solchen Zuwendungen." Er hatte den Schweizern das Geld gegeben, "um (ein) Debakel zu vermeiden." Baerwald hatte nicht den Wunsch, mit dem europäischen Direktor zu streiten. In jedem Fall realisierte er, dass das JDC keine andere Wahl hätte, als die Europäer so gut wie möglich zu unterstützen.

Am 28. August [1938] versicherte Kahn, dass er voll und ganz bemerkt habe, dass "Zuwendungen unausweichlich" seien. Er fügte hinzu: "Bitte sorgt euch nicht. Nichts wird gegen eure Beurteilung getan werden."

(Endnote 59:
-- 9-40, Baerwald an Kahn; und:
-- Administration Committee Ordner (AC), 8/24/38 [24. August 1938])

In der Tat hatte das JDC in New York keine andere Wahl, die Beurteilungen des Pariser Büros zu bestätigen, so lange sie nicht entschieden hatten, den europäischen Direktor auszuwechseln. Die wachsende Spannung in der Krise in Europa aber liess die New Yorker Führung die Entscheidung in Betracht ziehen, das europäischen Personal auszuwechseln.

[JDC: Die Entscheidung von Kahn, die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu unterstützen: Zahlen]

So weit die Schweiz betroffen war, so wurde das VSIA durch Kahns Aktion zu einem Komitee gemacht, das als jüdisches Hilfskomitee europaweit am meisten Gelder erhielt. Für die Unterstützung der sechs Flüchtlingslager und die Unterstützung von Flüchtlingen ausserhalb der Lager zahlte das JDC im Jahr 1938 total 66.000 $. Die totalen Ausgaben in der Schweiz beliefen sich auf 72.000 $, miteingeschlossen kleine Summen an Berufsausbildungsinstitutionen. Diese Summen lagen noch immer unter den schweizerischen Anträgen - Saly Mayer wollte eine monatliche Zuwendung von 57.600 $, aber in den letzten Monaten des Jahres 1938 lagen die monatlichen Zuwendungen des JDC an die Schweiz bei 20.000 $, was nur wenig weniger war, als in Österreich selbst ausgegeben wurde.

Die Dollars wurden zum günstigsten Kurs in Schweizer Franken gewechselt, und der SIG berichtete, dass sie folglich 415.449 Schweizer Franken erhalten hätten, oder ungefähr 33,8 % der totalen Einnahmen der schweizerisch-jüdischen Gemeinde von 1.820.457 Schweizer Franken.

(Endnote 60: SM, VSIA-2)

Die Schweiz und Frankreich waren aber mitnichten nicht die einzigen Krisenfälle im Sommer 1938.







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