[D.] Die
Flüchtlinge
[6.10. Schweiz 1938: Lager für jüdische
Flüchtlinge - Übergabe an das Reich - und Geldfragen]
[1938: Schweiz: 6 Lager
für deutsch-jüdische, mittellose Flüchtlinge]
Auch in der Schweiz verursachte der Zustrom von
Flüchtlingen aus Österreich eine scharfe Reaktion. Trotz
der im März und April getroffenen Massnahmen überquerten
Juden weiterhin die schweizer Grenze [weil auch die
Schlepper auf den Profit mit Flüchtlingen nicht verzichten
wollten]. Der VSIA [Verein Schweizerischer Israelitischer
Armenpflegen] kümmerte sich um jene (S.239)
denen die Flucht gelang und errichtete im Jahr 1938
sechs Lager, wo 877
mittellose Flüchtlinge untergebracht waren.
(Endnote 51: Saly Mayer Ordner (SM), VSIA-2)
[Juli-15. August 1938:
Ankunft von ungefähr 2300 deutsch-jüdischen
Flüchtlingen]
Durch den Juli und in der ersten Hälfte des August [1938]
gelang etwa 2300 jüdischen Flüchtlingen der illegale
Grenzübertritt.
[mit Hilfe der Schlepper, die von den jüdischen
Flüchtlingen gut bezahlt wurden].
[15. Aug 1938: Berlin
kündigt an, dass ab 1. Jan 1939 alle Österreicher
Deutsche sind - die schweizer Regierung überlegt
Massnahmen gegen die österreichisch-deutsch-jüdischen
Flüchtlinge]
Seit März mussten die Inhaber österreichischer Pässe für
die Einreise in die Schweiz ein Visum haben. Nun
verkündete ein Dekret Deutschlands vom 15. August, dass ab
1. Januar 1939 alle österreichischen Pässe in deutsche
Pässe umgetauscht würden, und die Inhaber deutscher Pässe
könnten weiterhin ohne Visum in die Schweiz einreisen. Die
schweizer Regierung traf deshalb einer Reihe von
Massnahmen gegen den Flüchtlingsstrom.
[10. August 1938: Die
Schweiz schliesst die Grenze für deutsch-jüdische
Flüchtlinge - die Übergabe an die Deutschen wird
vermieden, wenn Konzentrationslager droht]
Am 10. August etablierte ein polizeiliches Rundschreiben
an die Grenzpolizeistationen eine Politik, den
Flüchtlingen den Eintritt ins Land zu verweigern.
Am selben Datum unterbreitete der schweizer Polizeichef
seiner Regierung einen Bericht; darin stellte er fest,
dass Flüchtlinge, die sagten, dass sie bei einer Rückkehr
nach Deutschland in ein Konzentrationslager interniert
werden würden, nicht an die Deutschen ausgeliefert würden.
Das Problem war, was man mit den Illegalen machen sollte,
die sich bereits im Land befanden. Er dachte, dass sie
nach Deutschland ausgeschafft werden sollten, aber er
wagte nicht, diesen Schritt zu unternehmen, weil es "in
allen zivilisierten Ländern einen fürchterlichen Aufschrei
gegen die Schweiz geben" könnte.
(Endnote 52: Ludwig, op. cit. Ludwig, Carl: Die
Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur
Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum
[1957], S. 86-87)
[Aber die zivilisierten Staaten waren GAR NICHT
zivilisiert, sondern sie bereiteten in Europa alle einen
Krieg gegen die Sowjetunion vor].
[17. August 1938:
Schweiz: Konferenz der Polizeibeamten -
Konzentrationslager-Drohung zählt nicht mehr]
Eine Konferenz der Polizeibeamten am 17. August bestätigte
diese Politik, die dann durch die schweizer Regierung am
19. August verabschiedet wurde.
(Endnote 53: ebenda [Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik
der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S. 90)
Die jetzige Entscheidung aber ging schon weiter, denn nun
sollte überhaupt keine Flüchtlingseinwanderung von
Österreich mehr stattfinden, und alle Ausnahmeregelungen
für Personen, die mit Konzentrationslager bedroht waren,
wurden aufgehoben.
Die Position des schweizer Judentums in all diesen
Angelegenheiten war ziemlich schwierig. Bei einer
allgemeinen Sitzung des VSIA [Verein Schweizerischer
Israelitischer Armenpflegen] wurde festgestellt, dass,
während die Situation der Flüchtlinge tragisch war, die
schweizer Politik und die wirtschaftlichen Interessen
nicht ignoriert werden sollten.
[Grosse Teile der schweizer Oberschicht hatten meist in
Deutschland studiert und waren sehr antisemitisch,
unterstützten Nazi-Heime in der Schweiz, und die ganze
Schweiz hing von der deutschen Kohle ab, um im Winter zu
heizen].
[Feb 1938: Gerüchte dass
der SIG keine jüdischen Flüchtlinge mehr will]
Zum gleichen Zeitpunkt aber wies der Leiter des
Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG, Saly
Mayer, sehr energisch Gerüchte zurück, die besagten, dass
die obersten Ränge der schweizerisch-jüdischen Gemeinde
der Regierung mitgeteilt hätten, dass das schweizer
Judentum den weiteren Flüchtlingsstrom ins Land ablehne.
"Das Gesetz von 'Liebe deinen Nachbarn' ist immer noch die
Leitlinie unseres Tuns, und wir müssen so viel als möglich
für unsere Brüder zu erreichen versuchen, die in
Schwierigkeiten sind."
(Endnote 54: Saly Mayers Erklärung an den SIG im Februar
1938, SM, VSIA-2)
[Aber die linken, jiddischen Juden sind überhaupt nicht
willkommen].
Dies wurde aber einen Monat vor dem Anschluss gesagt.
Danach änderte die Situation. Die wirtschaftliche Last
durch den plötzlichen Zustrom tausender Flüchtlinge konnte
durch die kleine schweizerisch-jüdische Gemeinde nicht
gehalten werden. Während einige der Einwanderer in andere
Länder weiterreisten, und andere für ihren eigenen
Unterhalt sorgen konnten und somit für die Gemeinde nicht
zur Belastung wurden,
[Okt 1938: Schweiz: 2400
jüdische Flüchtlinge an der Fürsorge]
so mussten bis Oktober 1938 2400 unterstützt werden.
(Endnote 55: ebenda [Saly Mayers Erklärung an den SIG im
Februar 1938, SM, VSIA-2])
Der SIG gab an, er sei technisch und finanziell nicht in
der Lage, einen weiteren Zustrom zu unterstützen.
(Endnote 56: Dies wurde wiederholt in Appellen an den JDC
vom März 1938 angegeben).
[19.August 1938: Die
Schweiz schliesst die Grenzen - das VSIA warnt die IKG,
keine Flüchtlinge mehr zu schicken]
Am selben Tag des 19. August [1938], als die schweizer
Regierung ihre Entscheidung fällte, die Grenzen zu
schliessen, telegraphierte der VSIA der Israelitischen
Kultusgemeinde (IKG) in Wien eine Warnung, nicht noch mehr
illegale Flüchtlinge zu schicken (alle Flüchtlinge waren
illegal, weil kein österreichischer Jude eine legale
Einreiseerlaubnis in die Schweiz bekommen konnte, ausser
für einen Transit in ein anderes Land, oder wenn er viel
Geld in der Schweiz hatte).
(Endnote 57: SM, VSIA-2)
In anderen Worten fühlte das schweizerischer Judentum,
dass es dem offiziellen, schweizerischen Druck nachgeben
musste und seinen Part in der offiziellen
flüchtlingsfeindlichen Politik spielen musste.
[Ende 1938: 10-12.000
deutsch-jüdische Flüchtlinge in der Schweiz - die
Polizei händigt sie teilweise an die NS-deutsche Seite
aus]
Bis Ende 1938 waren es 10-12.000 jüdische Flüchtlinge, die
in der Schweiz steckenblieben. Tragödien an den Grenzen
wurden zur Tagesordnung; die Flüchtlinge wehrten sich
physisch gegen ihre Ausschaffung in deutsche Hände. Aber
natürlich hatte solcher Widerstand keinen Zweck.
(Endnote 58: Ibid. [SM, VSIA-2])
[Fragen um Geld des JDC
für jüdische Flüchtlinge in der Schweiz, Luxemburg,
Belgien und in der Tschechoslowakei]
In dieser Notlage wandte sich das schweizerische Judentum
über Saly Mayer an das JDC. In einem Telegramm am 25.
August [1938] berichtete Kahn an das JDC, dass die
schweizer Juden 1 Millionen Schweizer Franken benötigten,
aber dass nur ein Drittel dieser Summe vor Ort aufgebracht
werden könnte. Die Reaktion in New York war, dass lokale
Quellen zuerst verbraucht werden sollten, weil das
Einkommen des JDC auf solch grosse Notfälle nicht
eingestellt war. Dann teilte New York Kahn mit, dass man
die das Überstaatliche Flüchtlingskomitee (ICR, engl.
"Intergovernmental Committee on Refugees") angehen könnte.
"Wir denken immer wieder, dass eine Regelung solcher
Schwierigkeiten mit Flüchtlingen schnell viele andere
ermuntern wird, die Grenzen zu überschreiten."
Aber Kahn hatte eine andere Ansicht. Er verkündete seinem
Hauptbüro, dass ihm nicht nur in der Schweiz Nothilfe
gewährt werden sollte, sondern auch in Luxemburg, Belgien,
und in der Tschechoslowakei. Baerwald dachte, dass diese
Zuwendungen "schwankten", und er lehnte ab. Kahn reagierte
scharf: Am 26. August erklärte er in einem kurzen
Telegramm, dass es absolut zwingend sei, den Goodwill der
jüdischen wie der nichtjüdischen (S.241)
Institutionen zu erhalten. "(Das) ganze Verzeichnis (der)
JDC-Aktivitäten besteht (aus einer) vorausgehenden
Unterstützung von solchen Zuwendungen." Er hatte den
Schweizern das Geld gegeben, "um (ein) Debakel zu
vermeiden." Baerwald hatte nicht den Wunsch, mit dem
europäischen Direktor zu streiten. In jedem Fall
realisierte er, dass das JDC keine andere Wahl hätte, als
die Europäer so gut wie möglich zu unterstützen.
Am 28. August [1938] versicherte Kahn, dass er voll und
ganz bemerkt habe, dass "Zuwendungen unausweichlich"
seien. Er fügte hinzu: "Bitte sorgt euch nicht. Nichts
wird gegen eure Beurteilung getan werden."
(Endnote 59:
-- 9-40, Baerwald an Kahn; und:
-- Administration Committee Ordner (AC), 8/24/38 [24.
August 1938])
In der Tat hatte das JDC in New York keine andere Wahl,
die Beurteilungen des Pariser Büros zu bestätigen, so
lange sie nicht entschieden hatten, den europäischen
Direktor auszuwechseln. Die wachsende Spannung in der
Krise in Europa aber liess die New Yorker Führung die
Entscheidung in Betracht ziehen, das europäischen Personal
auszuwechseln.
[JDC: Die Entscheidung
von Kahn, die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu
unterstützen: Zahlen]
So weit die Schweiz betroffen war, so wurde das VSIA durch
Kahns Aktion zu einem Komitee gemacht, das als jüdisches
Hilfskomitee
europaweit
am meisten Gelder erhielt. Für die Unterstützung
der sechs Flüchtlingslager und die Unterstützung von
Flüchtlingen ausserhalb der Lager zahlte das JDC im Jahr
1938 total 66.000 $. Die totalen Ausgaben in der Schweiz
beliefen sich auf 72.000 $, miteingeschlossen kleine
Summen an Berufsausbildungsinstitutionen. Diese Summen
lagen noch immer unter den schweizerischen Anträgen - Saly
Mayer wollte eine monatliche Zuwendung von 57.600 $, aber
in den letzten Monaten des Jahres 1938 lagen die
monatlichen Zuwendungen des JDC an die Schweiz bei 20.000
$, was nur wenig weniger war, als in Österreich selbst
ausgegeben wurde.
Die Dollars wurden zum günstigsten Kurs in Schweizer
Franken gewechselt, und der SIG berichtete, dass sie
folglich 415.449 Schweizer Franken erhalten hätten, oder
ungefähr 33,8 % der totalen Einnahmen der
schweizerisch-jüdischen Gemeinde von 1.820.457 Schweizer
Franken.
(Endnote 60: SM, VSIA-2)
Die Schweiz und Frankreich waren aber mitnichten nicht die
einzigen Krisenfälle im Sommer 1938.