[D.] Die
Flüchtlinge
[6.8. Frankreich 1938 gegen jüdische Flüchtlinge
- Gefängnis und Konzentrationslager (KZs)]
[1937: 7000
deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich - 2500 davon
bedürftig]
In Frankreich rief die Katastrophe in Österreich eine
harte Reaktion der Regierung hervor. In Frankreich waren
anfangs nicht viele jüdische Flüchtlinge: Ende 1937 waren
es 7000 deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich, von
denen 2500 unterstützt werden mussten.
(Endnote 44: R28, halbmonatlicher Auszug ("fortnightly
digest"), 10/15/37 [15. Oktober 1937])
[In Frankreich leben zu dieser Zeit auch jüdische
Flüchtlinge aus anderen Ländern, manchmal schon seit über
10 Jahren].
[2. März 1938:
Frankreich: Geplantes Landwirtschaftsgesetz für Juden
geplant - keine Realisierung]
Aber im Frühjahr 1938, noch vor dem Anschluss, wurde die
französische Politik härter. Es war die Zeit des
finanziellen Zusammenbruchs der Volksfrontbewegung und der
Aufstieg der konservativen Kräfte. Am 2. März schlug die
französische Regierung vor, 10.000 Flüchtlinge als
Landwirtschaftsarbeiter anzusiedeln. Jene, die die
Ansiedlung in dieser Weise verweigern würden, würden aus
dem Land geworfen. Der Consistoire Centrale, die
oberste religiöse Autorität der französischen Juden,
stimmte im Prinzip zu, dass Juden, die die Anordnung der
Regierung missachteten, nicht in Frankreich bleiben
dürften.
Um eine Katastrophe zu vermeiden, schlugen Kahn für das
JDC und Baron Robert de Rothschild für das französische
Judentum eine Summe von 3 Millionen Francs vor, die für
dieses Projekt zurückgestellt werden sollte. Die ganze
Frage wurde am 27. März 1938 gegenüber allen jüdischen,
französischen und nichtjüdischen Organisationen, die in
Frankreich arbeiteten, bekanntgegeben. An dieser Sitzung
und wiederum im April wurde der Plan zu einem Projekt von
20 Millionen Francs ausgeweitet; die Absicht war nun,
12-15.000 Flüchtlinge auf französischem Boden anzusiedeln.
Aber nichts wurde unternommen. Am Ende entschied die
französische Regierung, dass man keine jüdischen
Flüchtlinge auf französischem Boden ansiedeln wolle.
[Ende März 1938:
Frankreich: Vorschlag von Serre, dass die Juden Geld
sammeln müssen, um die jüdischen Flüchtlinge nach
NS-Deutschland zurückzutransportieren - keine Mehrheit
im Parlament]
Und zwei Wochen nach dem Anschluss [Ende März 1938] wurde
ein noch gefährlicherer französischer Antrag bekannt:
Philippe Serre, der französische Staatssekretär für
Einwanderung, verlangte, dass die Juden in Frankreich für
die Regierung Geld sammeln sollten, um die Kosten für die
zwangsweise Repatriierung der Flüchtlinge nach Deutschland
zu decken. Marc Jarblum, ein Zionist und der Führer
der Fédération des Sociétés Juives [Föderation der
jüdischen Gesellschaften], die Hauptorganisation der
osteuropäischen Juden in Frankreich, hatte Serre
mitgeteilt, dass für einen solchen Vorschlag keine
jüdische Unterstützung zu erwarten sei. Ähnliche Antworten
kamen von Kahn für das JDC und von Edouard Oungre für das
HICEM. Aber der Vorsitzende der (S.237)
Sitzung, Prof. William Oualid vom Consistoire, zögerte: Es
war "unweise, rundheraus eine Absage zu erteilen"; er
schlug vor, dass die Juden sich an den Kosten der
Repatriierung beteiligen sollten, wenn es möglich war,
"eine vorteilhafte Lösung zu finden". Hinsichtlich dieser
Sitzung muss gesagt werden, dass der Vorschlag von Oualid
keine mehrheitliche Zustimmung fand.
(Endnote 45: R62, Treffen in Paris vom 3/27/38 [27. März
1938])
[2. Mai 1938: Frankreich:
Regierungsdekret definiert jüdische Flüchtlinge als
Kriminelle - ein Monat Gefängnis - dann 6 Monate
Gefängnis]
Als die Flüchtlinge von Österreich hereinzufliessen
begannen, wurde die französische Reaktion noch
unnachgiebiger. Am 2. Mai 1938 beschloss die Regierung,
dass alle Flüchtlinge, die nicht in andere Länder
weiterreisen und keine Bewilligung für den Aufenthalt in
Frankreich erlangen konnten, fortan als Kriminelle
behandelt würden. Richter wurden angewiesen, gegen solche
Flüchtlinge Strafen von
einem
Monat Gefängnis zu verfügen. Wenn nach diesem
Monat die Person innert einer Woche nach der Entlassung
aus dem Gefängnis immer noch kein anderes Flüchtlingsland
finden konnte, dann musste die Person
für weitere sechs Monate ins
Gefängnis gesteckt werden. Kinder solcher
"widerspenstiger" Eltern wurden in Fürsorgeheimen
untergebracht werden müssen.
Am 12. Oktober 1938 wurden weitere Anweisungen
herausgegeben mit der Absicht, speziell österreichische
Flüchtlinge zurückzuschicken. Man gab ihnen zum Verlassen
Frankreichs vier Tage, und wenn sie dies nicht taten, dann
würden sie
einer
mehrmonatigen Gefängnisstrafe unterliegen.
(Endnote 46: R47, Comité pour la Défense des Israélites en
Europe Centrale et Orientale, 3/24/39 [24. März 1939])
[März 1938: Frankreich:
Polnisch-jüdischen Flüchtlingen wird die
Staatsbürgerschaft aberkannt]
Diese drakonischen Massnahmen galten nicht nur für die
Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich [das nun
Deutschland geworden war], sondern auch für polnische
Juden, deren Staatsbürgerschaft durch ein polnisches
Dekret vom März 1938 aberkannt worden war.
(Endnote 47: siehe oben im Text, S. 243)
Diese Leute, von denen einige bereits über 10 Jahre oder
länger in Frankreich lebten, sollten nun plötzlich der
Verhaftung oder einer Gefängnisstrafe unterliegen, weil
ein Land, das die Jüngeren von ihnen noch nicht einmal
gesehen hatten, ihnen den technischen Schutz entzogen
hatte.
[12. Nov 1938:
Frankreich: Gefängnisstrafe wird in
Konzentrationslager-Strafe abgeändert]
Schlussendlich wurde am 12. November eine Novellierung zu
den früheren Dekreten veröffentlicht, und die
Gefängnisstrafe wurde in Zwangsaufenthalt abgeändert.
Natürlich waren die Richter frei befugt, die Flüchtlinge
eher in geschlossene Lager als in einige Dörfer oder
Städte zu schicken. Jüdische Flüchtlinge in Frankreich
wurden nun erstmals in Konzentrationslagern interniert,
noch vor dem Nazi-Angriff auf Frankreich. Diese
Internierung trug unmissverständlich zu einem gewissen
Grad zum Massenmord an den Juden in Frankreich bei, der
dann unter den Deutschen geschah. (S.238)
[Das JDC mit europäischem
Sitz in Frankreich]
Das JDC hatte keine grosse Wahl in Frankreich; dies war
der Sitz des europäischen Büros, und Kahn musste die
Flüchtlinge so gut es ging mit den beschränkten Mitteln
des JDC unterstützen.
[Juni-Okt 1938:
Deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich: Wachsende
Zahlen - JDC-Gelder - das HICEM sucht andere Länder -
Hoffnungen auf die ICR für ein Abkommen mit dem Dritten
Reich]
Die Zahlen stiegen durch das Jahr 1938 an, aber im Sommer
und Herbst waren sie noch kontrollierbar. Im Frühjahr 1938
hielten sich 10.000 Flüchtlinge in Frankreich auf; bis
Dezember schwoll ihre Zahl auf 25.000 an.
Das JDC gab in diesem Jahr in Frankreich 130.884 $ aus,
den Grossteil davon durch verschiedene
französisch-jüdische Organisationen zur Unterstützung
verschiedener Teile der Flüchtlingsarbeit; Gelder wurden
auch durch das HICEM weitergegeben, das versuchte,
Siedlungsplätze für die Flüchtlinge zu finden. Dies war
keine leichte Aufgabe, weil die meisten Regierungen - als
Resultat der Evian-Konferenz - die Haltung "abwarten und
zusehen" ("wait and see") einnahmen. "Es wird berichtet,
dass viele Länder ihre Türen in der Erwartung geschlossen
haben, dass durch die Einrichtung des
Winterton-Rublee-Komitees die Flüchtlinge aus Deutschland
nun etwas Geld mitbringen könnten."
(Endnote 48: Morris D. Waldman: Nor by Power; New York,
1955, S. 82, Zitat eines Berichts an das American Jewish
Committee, 11/6/38 [6. November 1938])
Dies natürlich war einem Zustrom von mittellosen
Flüchtlingen vorzuziehen. Die JDC-Führer sahen, dass sie
alles in ihrer Macht stehende tun mussten, um das neu
eingerichtete ICR zu befähigen, ein Abkommen mit
Deutschland abzuschliessen.