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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 6. Der Beginn vom Ende
[D.] Die Flüchtlinge

[6.8. Frankreich 1938 gegen jüdische Flüchtlinge - Gefängnis und Konzentrationslager (KZs)]

[1937: 7000 deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich - 2500 davon bedürftig]

In Frankreich rief die Katastrophe in Österreich eine harte Reaktion der Regierung hervor. In Frankreich waren anfangs nicht viele jüdische Flüchtlinge: Ende 1937 waren es 7000 deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich, von denen 2500 unterstützt werden mussten.

(Endnote 44: R28, halbmonatlicher Auszug ("fortnightly digest"), 10/15/37 [15. Oktober 1937])

[In Frankreich leben zu dieser Zeit auch jüdische Flüchtlinge aus anderen Ländern, manchmal schon seit über 10 Jahren].

[2. März 1938: Frankreich: Geplantes Landwirtschaftsgesetz für Juden geplant - keine Realisierung]

Aber im Frühjahr 1938, noch vor dem Anschluss, wurde die französische Politik härter. Es war die Zeit des finanziellen Zusammenbruchs der Volksfrontbewegung und der Aufstieg der konservativen Kräfte. Am 2. März schlug die französische Regierung vor, 10.000 Flüchtlinge als Landwirtschaftsarbeiter anzusiedeln. Jene, die die Ansiedlung in dieser Weise verweigern würden, würden aus dem Land geworfen. Der  Consistoire Centrale, die oberste religiöse Autorität der französischen Juden, stimmte im Prinzip zu, dass Juden, die die Anordnung der Regierung missachteten, nicht in Frankreich bleiben dürften.

Um eine Katastrophe zu vermeiden, schlugen Kahn für das JDC und Baron Robert de Rothschild für das französische Judentum eine Summe von 3 Millionen Francs vor, die für dieses Projekt zurückgestellt werden sollte. Die ganze Frage wurde am 27. März 1938 gegenüber allen jüdischen, französischen und nichtjüdischen Organisationen, die in Frankreich arbeiteten, bekanntgegeben. An dieser Sitzung und wiederum im April wurde der Plan zu einem Projekt von 20 Millionen Francs ausgeweitet; die Absicht war nun, 12-15.000 Flüchtlinge auf französischem Boden anzusiedeln. Aber nichts wurde unternommen. Am Ende entschied die französische Regierung, dass man keine jüdischen Flüchtlinge auf französischem Boden ansiedeln wolle.

[Ende März 1938: Frankreich: Vorschlag von Serre, dass die Juden Geld sammeln müssen, um die jüdischen Flüchtlinge nach NS-Deutschland zurückzutransportieren - keine Mehrheit im Parlament]

Und zwei Wochen nach dem Anschluss [Ende März 1938] wurde ein noch gefährlicherer französischer Antrag bekannt: Philippe Serre, der französische Staatssekretär für Einwanderung, verlangte, dass die Juden in Frankreich für die Regierung Geld sammeln sollten, um die Kosten für die zwangsweise Repatriierung der Flüchtlinge nach Deutschland zu decken. Marc Jarblum, ein Zionist und der Führer der  Fédération des Sociétés Juives [Föderation der jüdischen Gesellschaften], die Hauptorganisation der osteuropäischen Juden in Frankreich, hatte Serre mitgeteilt, dass für einen solchen Vorschlag keine jüdische Unterstützung zu erwarten sei. Ähnliche Antworten kamen von Kahn für das JDC und von Edouard Oungre für das HICEM. Aber der Vorsitzende der (S.237)

Sitzung, Prof. William Oualid vom Consistoire, zögerte: Es war "unweise, rundheraus eine Absage zu erteilen"; er schlug vor, dass die Juden sich an den Kosten der Repatriierung beteiligen sollten, wenn es möglich war, "eine vorteilhafte Lösung zu finden". Hinsichtlich dieser Sitzung muss gesagt werden, dass der Vorschlag von Oualid keine mehrheitliche Zustimmung fand.

(Endnote 45: R62, Treffen in Paris vom 3/27/38 [27. März 1938])

[2. Mai 1938: Frankreich: Regierungsdekret definiert jüdische Flüchtlinge als Kriminelle - ein Monat Gefängnis - dann 6 Monate Gefängnis]

Als die Flüchtlinge von Österreich hereinzufliessen begannen, wurde die französische Reaktion noch unnachgiebiger. Am 2. Mai 1938 beschloss die Regierung, dass alle Flüchtlinge, die nicht in andere Länder weiterreisen und keine Bewilligung für den Aufenthalt in Frankreich erlangen konnten, fortan als Kriminelle behandelt würden. Richter wurden angewiesen, gegen solche Flüchtlinge Strafen von einem Monat Gefängnis zu verfügen. Wenn nach diesem Monat die Person innert einer Woche nach der Entlassung aus dem Gefängnis immer noch kein anderes Flüchtlingsland finden konnte, dann musste die Person für weitere sechs Monate ins Gefängnis gesteckt werden. Kinder solcher "widerspenstiger" Eltern wurden in Fürsorgeheimen untergebracht werden müssen.

Am 12. Oktober 1938 wurden weitere Anweisungen herausgegeben mit der Absicht, speziell österreichische Flüchtlinge zurückzuschicken. Man gab ihnen zum Verlassen Frankreichs vier Tage, und wenn sie dies nicht taten, dann würden sie einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe unterliegen.

(Endnote 46: R47, Comité pour la Défense des Israélites en Europe Centrale et Orientale, 3/24/39 [24. März 1939])

[März 1938: Frankreich: Polnisch-jüdischen Flüchtlingen wird die Staatsbürgerschaft aberkannt]

Diese drakonischen Massnahmen galten nicht nur für die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich [das nun Deutschland geworden war], sondern auch für polnische Juden, deren Staatsbürgerschaft durch ein polnisches Dekret vom März 1938 aberkannt worden war.

(Endnote 47: siehe oben im Text, S. 243)

Diese Leute, von denen einige bereits über 10 Jahre oder länger in Frankreich lebten, sollten nun plötzlich der Verhaftung oder einer Gefängnisstrafe unterliegen, weil ein Land, das die Jüngeren von ihnen noch nicht einmal gesehen hatten, ihnen den technischen Schutz entzogen hatte.

[12. Nov 1938: Frankreich: Gefängnisstrafe wird in Konzentrationslager-Strafe abgeändert]

Schlussendlich wurde am 12. November eine Novellierung zu den früheren Dekreten veröffentlicht, und die Gefängnisstrafe wurde in Zwangsaufenthalt abgeändert. Natürlich waren die Richter frei befugt, die Flüchtlinge eher in geschlossene Lager als in einige Dörfer oder Städte zu schicken. Jüdische Flüchtlinge in Frankreich wurden nun erstmals in Konzentrationslagern interniert, noch vor dem Nazi-Angriff auf Frankreich. Diese Internierung trug unmissverständlich zu einem gewissen Grad zum Massenmord an den Juden in Frankreich bei, der dann unter den Deutschen geschah. (S.238)

[Das JDC mit europäischem Sitz in Frankreich]

Das JDC hatte keine grosse Wahl in Frankreich; dies war der Sitz des europäischen Büros, und Kahn musste die Flüchtlinge so gut es ging mit den beschränkten Mitteln des JDC unterstützen.

[Juni-Okt 1938: Deutsch-jüdische Flüchtlinge in Frankreich: Wachsende Zahlen - JDC-Gelder - das HICEM sucht andere Länder - Hoffnungen auf die ICR für ein Abkommen mit dem Dritten Reich]

Die Zahlen stiegen durch das Jahr 1938 an, aber im Sommer und Herbst waren sie noch kontrollierbar. Im Frühjahr 1938 hielten sich 10.000 Flüchtlinge in Frankreich auf; bis Dezember schwoll ihre Zahl auf 25.000 an.

Das JDC gab in diesem Jahr in Frankreich 130.884 $ aus, den Grossteil davon durch verschiedene französisch-jüdische Organisationen zur Unterstützung verschiedener Teile der Flüchtlingsarbeit; Gelder wurden auch durch das HICEM weitergegeben, das versuchte, Siedlungsplätze für die Flüchtlinge zu finden. Dies war keine leichte Aufgabe, weil die meisten Regierungen - als Resultat der Evian-Konferenz - die Haltung "abwarten und zusehen" ("wait and see") einnahmen. "Es wird berichtet, dass viele Länder ihre Türen in der Erwartung geschlossen haben, dass durch die Einrichtung des Winterton-Rublee-Komitees die Flüchtlinge aus Deutschland nun etwas Geld mitbringen könnten."

(Endnote 48: Morris D. Waldman: Nor by Power; New York, 1955, S. 82, Zitat eines Berichts an das American Jewish Committee, 11/6/38 [6. November 1938])

Dies natürlich war einem Zustrom von mittellosen Flüchtlingen vorzuziehen. Die JDC-Führer sahen, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun mussten, um das neu eingerichtete ICR zu befähigen, ein Abkommen mit Deutschland abzuschliessen.







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