[B. Die
Massnahmen der Schweiz gegen die Auswanderungswelle im
Frühjahr 1938]
[6.5. Die erste Auswanderungswelle aus
Österreich und Italien: Die Schweiz übergibt viele
Juden den Nazis]
Viele Juden warteten nicht - oder konnten nicht - auf eine
Ausreisegenehmigung der Israelitischen Kultusgemeinde IKG
warten. In der ersten Panik flohen Tausende aus
Österreich. Sie wurden dabei von den Nazis oft über die
Grenze gejagt, vor allem durch SA und SS-Einheiten. Die
CSSR, Ungern und Jugoslawien, die Länder, die eine
gemeinsame Grenzen zu Österreich hatten, schlossen ihre
Grenzen. Obwohl der illegale Grenzübertritt speziell
gefährlich war, gelang es einer kleinen, aber unbekannten,
Anzahl Juden, die Grenze zu passieren. Andererseits war es
relativ einfach, nach Italien oder in die Schweiz zu
gelangen. Reisende mit einem österreichischen Pass
brauchten dafür kein Visum. Während der ersten paar Wochen
nach dem Anschluss gelangten so über 3000 Flüchtlinge,
meist Juden, in die Schweiz.
(Endnote 21: Ludwig, op. cit. [Ludwig, Carl: Die
Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur
Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum
[1957], S.75
[Ergänzung:
Die Juden, denen die Flucht gelang, mussten den Schleppern
dafür zahlen. Nur reiche Juden konnten sich eine
eigenmächtige Flucht leisten. Die Schmuggler (Österreicher
und Schweizer) machten mit dem Schmuggeln dieser
Flüchtlinge einen guten Gewinn. Es waren vor allem Juden,
aber auch Sozialisten und andere].
[Die schweizer Regierung
fordert Visa wegen der Gefahr, dass der Antisemitismus
steigen könnte]
Die schweizer Reaktion über den Flüchtlingsstrom war
geteilt. Am 26. März [1938] verlangte das Eidgenössische
Justiz- und Polizeidepartement von der Regierung (S.229)
(Bundesrat) einen Erlass, dass die Besitzer von
österreichischen Pässen nur noch mit Visas in die Schweiz
kommen können. "Wir müssen uns selbst mit allen unseren
Mitteln verteidigen, sogar mit Massnahmen der
Rücksichtslosigkeit gegen den Zustrom ausländischer Juden,
speziell aus dem Osten, wenn wir einen begründeten Boden
für eine antisemitische Bewegung vermeiden wollen, die
unserem Land abträglich wäre."
(Endnote 22: ebenda [Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik
der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S.76)
[Ergänzung:
Das Argument, dass eine Antisemitismuswelle bevorstehen
würde, ist nicht glaubwürdig, denn es war die Oberschicht,
die in der Schweiz am antisemitischsten war und von
Arisierungen profitierte, im Schutze des Bankgeheimnis,
das von den antisemitischen Bankiers der Oberschicht
installiert worden war. Die Oberschicht in der Schweiz
hatte somit allen Grund, ihren eigenen Antisemitismus vor
den Juden geheimzuhalten, und deswegen war jeder jüdische
Flüchtling im Land zu viel...]
[Der schweizerische
Visakampf gegen österreichische Juden]
Die Verteidigung "mit allen unseren Mitteln" gegen
fliehende Flüchtlinge, die um ihr Leben rannten, war
wirklich erfolgreich: Am 28. März erliess der Bundesrat
einen Beschluss, dass für die Besitzer österreichischer
Pässe Visas erforderlich seien. Am 8. April informierte
ein Rundschreiben der Eidgenössischen Fremdenpolizei die
kantonalen Polizeidepartemente, dass - auch wenn sehr
triftige Gründe dafür sprachen, dass die Flüchtlinge
bleiben könnten - diesen gesagt werden müsste, das Land
zum frühest möglichen Zeitpunkt wieder zu verlassen.
Nichtsdestotrotz waren diese strengeren Bestimmungen kein
Gewinn,
[Seit Mitte Mai 1938: Schweizer und deutsche Regierung
schieben Juden hin und her]
und ab ungefähr Mitte Mai 1938 wurden jüdische Gruppen an
die schweizer Grenze gebracht, es wurde ihnen alles Hab
und Gut genommen, sie wurden an der Grenze in
Nazi-Gefängnissen gehalten, und dann wurden sie in der
Nacht wieder auf schweizer Territorium herübergeschickt.
Eine Rückkehr nach Österreich bedeutete die unmittelbare
Bedrohung mit Behandlung im Konzentrationslager.
Der schweizer Polizeichef, Dr. Heinrich Rothmund, fragte
ernsthaft bei der deutschen Regierung an, diesen
Deportationen in die Schweiz ein Ende zu bereiten, "dass
diese Juden ebensowenig braucht wie Deutschland."
(Endnote 23: ebenda [Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik
der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S.82, Fussnote 1;
Ludwig gibt an (S.83), dass vor dem 1. April 3-4000
österreichische jüdische Einwanderer in der Schweiz
waren).
[Ab 1. April 1938: 2000
weitere jüdische Flüchtlinge und illegale Flüchtlinge
kommen in die Schweiz - gesunde Flüchtlinge - schweizer
Konsulat]
Nach dem 1. April scheint es noch einmal einen Zustrom von
weiteren 2000 Flüchtlingen gegeben zu haben, die ohne
Visas die Schweiz erreichten, und zusätzlich eine Anzahl
Illegaler. Ausserdem waren da auch gesunde Flüchtlinge,
die eine offizielle Einreiseerlaubnis ins Land besassen.
In Tat und Wahrheit scheint das schweizer Konsulat in Wien
liberaler im Gewähren von Einreisebewilligungen gewesen zu
sein, als es durch die Instruktionen von der schweizer
Regierung befugt gewesen wäre.
[Ab 1938: Antisemitische
Propaganda in Italien provoziert den Zustrom von
ungefähr 3000 jüdischen Flüchtlingen in die Schweiz]
Ein ähnlicher Zustrom von österreichischen Flüchtlingen
nach Westeuropa - Frankreich, Holland, Luxemburg und
Belgien, provozierte dort ähnliche Reaktionen. Von Italien
aus, wo die rassistische Propaganda unter dem deutschen
Einfluss ab 1938 begann, versuchten verzweifelte
Flüchtlinge, in die Schweiz zu gelangen; offensichtlich
ist dies ungefähr 3000 auch gelungen.
(Endnote 24: ebenda [Ludwig, Carl: Die Flüchtlingspolitik
der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957], S.84)
[Sommer 1938: Die
schweizer Regierung übergibt jüdische Flüchtlinge den
Nazis]
Aber als der Sommer nahte, begannen alle westlichen
Länder, ihre Grenzen gegenüber diesen Flüchtlingen zu
schliessen, und die Schweiz begann, die Flüchtlinge, die
beim illegalen Grenzübertritt gefasst worden waren, an
Deutschland zurückzugeben. (S.230)