[D. 5.19.] Die
Baltenstaaten [Litauen und Lettland 1929-1938]
[Bedingungen in Litauen
und Lettland]
Die Baltischen Staaten Litauen und Lettland waren für das
Verteilungskomitee ein Gebiet von langfristigem Interesse
- speziell Litauen. Dort erging es den ungefähr 153.000
Juden besser als in Polen. Die Gründe dafür waren, kurz
gesagt, (S.220)
der niedrigere Prozentanteil (7,5 %) der Juden - Polen
hatte über 10 %; ihre erklärte Identifikation mit
litauischen, nationalen Zielen; die eher rationalen,
wirtschaftlichen Strukturen des Landes, und ein Geist mit
örtlicher, jüdischer Initiative. Aber es gab in der
städtischen Mittelklasse Litauens doch eine starke
Bestrebung, die jüdischen Positionen im Handel, in der
Industrie, und in den Fachberufen zu übernehmen. Diese
Bewegung bekam durch die Ereignisse im Nachbarland [?]
Deutschland zusätzliche Kraft.
[Jüdische Schulen]
Die jüdische Erziehung war generell in zionistischen
Händen und umfasste ungefähr 190 Grundschulen. In 180
dieser Grundschulen wurde Hebräisch gelehrt. Eine Anzahl
hebräischer und jiddischer Oberstufenschulen lehrte auch
die jüdischen Nationalsprachen wie auch das Litauische.
Diese Schulen wurden als Privatschulen angesehen,
erhielten aber vom Finanzministerium einige Finanzhilfe.
[Ab 1919: Litauen: Die
Bewegung der Kooperativen und die Arbeit des JDC]
Die hausgemachte Weltwirtschaftskrise war auch in Litauen
spürbar, und das JDC erkannte die Notwendigkeit, dort zu
arbeiten. Die örtliche Kooperativen-Bewegung war ziemlich
stark, und im Jahr 1936 waren 88 Kooperativen mit nahezu
17.000 Mitgliedern organisiert,
(Endnote 90: 41-Gen. & Emerg. Litauen 1937-41-Bericht,
10/1/37 [1. Oktober 1937])
zum Teil durch das JDC unterstützt.
(Endnote 91: Im Jahr 1937 gab das JDC in Litauen 24.824 $
aus).
[Aufbaufond in Litauen -
Kassen]
Zusätzlich waren im Jahr 1937 19 Aufbaufond-Kassen
eingerichtet, die 56.000 Kredite über durchschnittlich 107
$ vergaben (und dies zeigt doch einen viel höheren
wirtschaftlichen Standard als in Polen).
[Litauen: Die
JDC-Gesundheitsarbeit - Berufsschulen - Auswanderung
nach Palästina oder Südafrika]
Die Gesundheitsstandards tendierten abwärts, der Druck zur
Auswanderung begann zu wachsen, und die Zuwendungen des
JDC für die Berufsschulen schnellten hoch, weil die
Nachfrage nach Berufsausbildung zur Vorbereitung einer
Auswanderung immer mehr anstieg.
(Endnote 92: Siehe: Farn Folks-Gesundt; Kovno 1937;
publiziert vom OSE. Das Einkommen des OSE ging zwischen
1932 und 1935 um 27 % zurück, proportional zum Rückgang
der Ausgaben; aber ein Bericht des JDC im Jahre 1935
berichtete von 40,5 % anämischen und unterernährten
Kindern, im Gegensatz zu 33,5 % im Jahre 1932 (R16, Mai
1935).
Auswanderer gingen zu grossen Teilen nach Palästina und
Südafrika und bewirkten in Litauen eine langsame Abnahme
der jüdischen Bevölkerung. Während es keine
offensichtlichen antisemitischen Gesetze oder
Regulierungen gab, so kam es auf lokaler Ebene doch zu
Unruhen, wie sie auch in Polen stattfanden, wenn auch auf
einem niedrigeren Niveau als in Polen. Kahn fasste die
Situation in Litauen so zusammen, indem er sagte, dass es
"nicht so schlimm (wie in Polen und Lettland), aber
nichtsdestotrotz schlimmer war als vorher."
(Endnote 93: R16, Kahn, am 11/19/35 [19. November 1935];
Es gab Anschuldigungen des Ritualmordes und ein Pogrom im
Jahre 1935 (in Telsiai); siehe: Jewish Chronicle, 4/19/35
[19. April 1935], 10/18/35 [18. Oktober 1935])
[Also gab es Pogrome und Raub, aber vielleicht keine
Toten. Dies scheint untersuchungswürdig].
[Lettland: Das Regime von
Karlis Ulmanis zerstört das Judentum]
Lettland war insgesamt ein anderer Fall. Die 93.000 Juden
in diesem Land wurden unter der Diktatur von Karlis
Ulmanis systematisch ihrer Lebensgrundlagen beraubt, und
zwar (S.221)
seit der Machtübernahme im Jahre 1934 [ab 15. Mai 1934].
Wie in anderen Ländern ging auch dort die jüdische
Bevölkerung zurück: Seit 1925 waren 6000 ausgewandert, und
die Geburtenrate ging auch zurück. Jüdische
Produktionsbetriebe wurden vom Staat übernommen;
[Lettland:
Diskriminierungen in Berufen]
seit 1930 war keinem jüdischen Arzt mehr eine
Arbeitsbewilligung erteilt worden, und die staatlichen
Monopole, die auf dem polnischen Modell basierten (für den
Verkauf von landwirtschaftlichen Gütern u.a. - für den
jüdischen Handel ein Haupterwerbszweig) hiess dies
automatisch nicht nur die Verarmung der einstigen
jüdischen Besitzer, sondern auch die plötzliche
Arbeitslosigkeit von vielen jüdischen Arbeitern. Mit dem
Ruin der Intellektuellen und der Händler neigten die Juden
nun dazu, in die körperliche Arbeit zu gehen, aber die
Umschulung war wegen des Widerstands der lettischen
Arbeiter schwierig.
Das jüdische Erziehungssystem unter Agudah war der einzige
jüdische Apparat, der mit der Regierung zusammenarbeitete.
Das JDC gab nur wenig Hilfe, und was es gab, wurde
hauptsächlich über Kreditinstitutionen geleitet. Wie in
anderen Ländern realisierte jeder am Ende der 1930er
Jahre, dass Auswanderung die einzige praktikable Lösung
war - aber man konnte nirgendwo hingehen. Das europäische
Judentum blieb in der Falle.
[Für die baltischen Juden gab es kein Haavarah-Abkommen...
und die Auswanderung ging auf niedrigem Niveau weiter]