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Berliner Mauer. Meldungen

Interessant, wie sich die Grossmächte Deutschland aufteilten

Mauerflucht
                ("Republikflucht") im Tunnel
Mauerflucht ("Republikflucht") im Tunnel  [5]

Meldungen

präsentiert von Michael Palomino

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25.7.2011: Rede vom 25. Juli 1961: Kennedy erlaubte der "Sowjetunion" indirekt den Mauerbau

Kennedy war in den 1960er Jahren total mit seinen Krankheiten, mit seinen Frauen, mit Kuba, und vor allem auch mit Vietnam und mit der Gagarin-Propaganda beschäftigt. Kennedy musste das kommunistische "Domino" verhindern. Er wollte in Deutschland einfach seine Ruhe haben, und vielleicht war es sein Wunsch, ein "Berliner" zu sein, aber praktisch gesehen war er dann kein Berliner für alle Berliner. Und indirekt erlaubte er dann den Mauerbau:

aus: Welt online: "Three Essentials": Warum die DDR nach Kennedys Rede die Mauer baute - Blaupause für den Mauerbau; 25.7.2011;
http://www.welt.de/kultur/history/article13506537/Warum-die-DDR-nach-Kennedys-Rede-die-Mauer-baute.html

<Autor: Sven Felix Kellerhoff

Vor 50 Jahren hielt US-Präsident John F. Kennedy seine "Three-Essentials"-Rede: der DDR lieferte sie die Blaupause für den Mauerbau.

Das Oval Office ist vollgestopft mit Scheinwerfern, Kameras und Mikrofonen. Wo keine Technik steht, drängen sich Mitarbeiter der großen amerikanischen TV-Networks und Radioanstalten. Sämtliche wichtigen Sender wollen die Ansprache um 22 Uhr Washingtoner Zeit übertragen, die „Voice of America“ sogar weltweit.

Die „New York Times“ hat die Ansprache an diesem 25. Juli 1961 als zweite „Einführungsrede von Präsident Kennedy“ angekündigt: „Mit der ersten wurde er am 20. Januar 1961 in sein Amt eingeführt, nun führt der Präsident eine neue, flexible Politik nicht nur für Berlin, sondern für den gesamten ,Kalten Krieg’ ein.“ Die Erwartungen sind hoch.

Auf keinen Fall als Kriegstreiber erscheinen

Auch der gerade 44 Jahre junge Präsident ist angespannt. Er weiß: Viel hängt davon ab, dass er den richtigen Ton trifft. Er muss den Sowjets unmissverständlich klarmachen, dass die USA ihrem aggressiven Kurs nicht einfach zusehen werden. Andererseits will er die Lage nicht zusätzlich verschärfen; auf keinen Fall darf er in den Augen der westlichen Welt als Kriegstreiber erscheinen.

Schon seit Tagen bereitet der Stab des Weißen Hauses intensiv die Rede vor. Doch ausgerechnet in dieser Situation plagen Kennedy große Schmerzen: Sein Rücken macht ihm einmal mehr Probleme. Nur mit einem Stützkorsett unter dem Anzug und einer zusätzlichen Dosis Kortison ist er überhaupt zu dem Auftritt in der Lage.

Mit ruhiger Stimme und beinahe düsterem Gesicht beginnt er auf die Sekunde pünktlich zu sprechen: „Heute Abend ist es sieben Wochen her, dass ich aus Europa zurückgekehrt bin und Ihnen über mein Treffen mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow und den anderen berichtet habe.“

West-Berlin verlassen? "Das können wir nicht zulassen“

Schnell kommt Kennedy zur Hauptsache, zu den Forderungen des sowjetischen Parteichefs: „In Berlin will er durch einen Federstrich unsere legalen Rechte auf Anwesenheit in West-Berlin aufheben und uns die Möglichkeit nehmen, unsere Verpflichtungen gegenüber den zwei Millionen Einwohnern dieser Stadt zu erfüllen.“ Kennedy macht eine kurze Pause, schaut fest in die Kameras und sagt: „Das können wir nicht zulassen.“

Sein Berater und Redenschreiber Ted Sorensen hat viel Dramatik in den Text gelegt, an den sich der Präsident weitgehend hält: „Die unmittelbare Bedrohung der freien Menschheit liegt in West-Berlin. Aber dieser isolierte Vorposten ist kein isoliertes Problem. Die Bedrohung ist weltumfassend. Unsere Anstrengung muss gleichermaßen umfassend und stark sein.“

Durch Betonung und seinen ernsten Gesichtsausdruck setzt der Rhetoriker Kennedy die klug geschriebene Rede gekonnt in Szene. West-Berlin sei mehr als ein „Schaufenster der Freiheit“ und „eine Insel der Freiheit inmitten der kommunistischen Flut“, nämlich der „Prüfstein für den Mut und die Willensstärke des Westens“.

"Jede Position ist zu halten, wenn Männer dafür einstehen"

Dann greift Kennedy noch tiefer ins emotionale Repertoire seiner Nation: „Ich habe sagen hören, West-Berlin sei militärisch nicht zu halten. Dies galt ebenfalls für Bastogne und für Stalingrad. Aber jede Position ist zu halten, wenn tapfere Männer dafür einstehen. Wir wollen den Kampf nicht – aber wir haben schon gekämpft.“ Damit packt er die Soldatengeneration des Zweiten Weltkriegs an der Ehre.

Nach dieser aufwühlenden Einleitung allerdings schaltet Kennedy um zu Realpolitik – ganz im Sinne einer Vorlage, die sein Außenminister Dean Rusk einige Tage zuvor verfasst hat. Lediglich Rusks vierten Punkt, den Schutz der Bundesrepublik vor einem Angriff durch die DDR, lässt er weg – er gehört nicht direkt zum Berlin-Problem.

Kennedy bekennt unmissverständlich: „Unserer Anwesenheit in West-Berlin und unserem Zugang zu dieser Stadt kann nicht durch irgendwelche Handlungen der Sowjetregierung ein Ende gesetzt werden.“ Außerdem erneuert er eine wichtige Zusage: „Wir müssen unser der freien Bevölkerung West-Berlins gegebenes und oft wiederholtes Versprechen halten, unsere Rechte und ihre Sicherheit selbst angesichts von Gewalt bewahren, um das Vertrauen der anderen freien Völker in unser Wort und unsere Entschlossenheit nicht zu verlieren.“ Als seine „Three Essentials“ sind diese Grundsätze weltberühmt geworden.

Stärkste Aufrüstung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg

Indirekt droht Kennedy, indem er die stärkste Aufrüstung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg ankündigt – um immerhin ein Sechstel der bisherigen Friedensstärke; um mehr als drei Milliarden Dollar soll der Verteidigungsetats aufgestockt werden.

Möglichen Kritikern nimmt er gleich den Wind aus den Segeln: „Ich bin sicher, dass jeder Amerikaner bereit ist, seinen angemessenen Beitrag zu zahlen und die Last der Verteidigung der Freiheit nicht ausschließlich jenen zu überlassen, die unter den Waffen stehen.“

So klar Kennedys Worte sind, so klar fällt die Reaktion der Welt aus. Die wichtigsten Verbündeten, darunter Bundeskanzler Konrad Adenauer, waren ohnehin vorab bereits über den Redetext unterrichtet worden. Aber auch alle westlichen Zeitungen loben die Rede; Kennedy habe den richtigen Ton getroffen. Die Sowjets und die DDR stellen umgehend die angekündigte Aufrüstung der USA heraus und interpretieren das offiziell als Bedrohung, auf die reagiert werden müsse.

Für die DDR politische Blaupause für den 13. August 1961

Intern aber lesen die Berater um Nikita Chruschtschow ganz besonders gründlich – und stellen fest, dass der US-Präsident stets nur von Garantien für West-Berlin gesprochen hatte, nur von den „zwei Millionen Einwohnern“ der westlichen Sektoren gesprochen hat statt von den 3,3 Millionen der gesamten Stadt.

Neben dem dramatischen, zugespitzten Tenor enthält die Rede tatsächlich zwischen den Zeilen noch eine zweite Linie: Kennedy signalisiert, wo genau die Schmerzgrenze der USA liegt. Die „Three Essentials“ sind nicht verhandelbar. Doch schnell erkennen die Sowjets: Im Umkehrschluss kann man daraus ableiten, welche Maßnahmen die westliche Allianz doch hinzunehmen bereit sei.

Das Weiße Haus hat nämlich, trotz des öffentlich wahrgenommenen und geförderten warnenden Charakters der Ansprache, kein Interesse, die Krise um Berlin weiter zu verschärfen. Kennedy will einen Krieg vermeiden. Das ist nur möglich, wenn die Sowjets einerseits wissen, dass die USA nicht zurückweichen werden, er ihnen aber andererseits signalisiert, dass die westliche Supermacht all jene Maßnahmen akzeptieren wird, die den Status quo von West-Berlin nicht entscheidend tangierten.

Der US-Präsident hat nie eingeräumt, dass seine „Three-Essentials“-Rede bewusst dieses Ziel gehabt hat. De facto aber liefert sie der DDR die politische Blaupause für den 13. August 1961. Denn Nikita Chruschtschow kann nun sicher sein, wie weit er gehen kann, ohne einen Atomkrieg fürchten zu müssen. Am 25. Juli 1961 gibt John F. Kennedy grünes Licht für den Mauerbau.>

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n-tv online,
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12.8.2011: Präsident Kennedy hätte den Mauerbau verhindern können, wenn er bei Chruschtschow auf dem Viermächteabkommen bestanden hätte

aus: n-tv online: Kennedy, Chruschtschow und der Kalte Krieg: "JFK hätte die Mauer verhindern können"; 12.8.2011;
http://www.n-tv.de/politik/JFK-haette-die-Mauer-verhindern-koennen-article3984976.html

<Vor genau 50 Jahren steht Berlin im Fokus der Weltpolitik. Die DDR zieht die Mauer hoch - und die Welt schaut zu. Dabei spielt besonders US-Präsident John F. Kennedy eine unrühmliche Rolle, meint der Autor Frederick Kempe im Gespräch mit n-tv.de. "Sein Ziel war, keinen einzigen Amerikaner in Berlin zu verlieren", so Kempe. Kennedy habe geglaubt, der Sowjetunion entgegenkommen zu müssen. "Das war eine fatale Fehleinschätzung", so Kempe. Ein Jahr danach habe es die Kuba-Krise gegeben, durch den Mauerbau sei die Welt gefährlicher geworden.

Der Journalist Frederick Kempe ist Chef des Atlantic Council und Autor des Buches "Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt". Der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow hielt Kennedy für schwach.

n-tv.de: Was ist noch immer so spannend an Berlin 1961?

Frederick Kempe: Berlin war ein Spielplatz der Weltpolitik. Das ist nur teilweise eine deutsche Geschichte. Ich habe versucht, die Geschichten von Kennedy, Chruschtschow, Adenauer und Ulbricht zusammen zu erzählen. Um Berlin 1961 zu verstehen, muss man die deutsche Geschichte verstehen, aber auch die Weltgeschichte. Natürlich stand die Mauer in Berlin, aber die Strippenzieher saßen in Washington und Moskau.

Welche neuen Erkenntnisse haben Sie bei den Recherchen für Ihr Buch gewonnen?

Die meisten neuen Erkenntnisse hatte ich in Bezug auf US-Präsident John F. Kennedy und seine Rolle. Die stammen teilweise aus neuen Dokumenten, von denen ich ein paar in den Vereinigten Staaten gefunden habe, einige auch in Deutschland. Aber es ist immer noch schwierig, neue Sachen aus Moskau zu bekommen. Ich habe auch bereits veröffentlichte Dokumente genauer angesehen, und aus all diesem Material habe ich mein Buch geschrieben.

Welche Rolle schreiben Sie Kennedy zu?

Kennedy hat selbst gesagt, dass 1961 kein gutes Jahr für ihn war. Ich gehe noch weiter und sage, wenn man es genau anschaut, hat Kennedy das Skript für den Mauerbau mitgeschrieben.

Wie meinen Sie das?

Kennedy hat in Wien dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow mehr oder weniger klar gesagt, dass er innerhalb Ost-Berlins und der DDR machen könne, was er wolle, solange er West-Berlin unberührt lässt. Deshalb ist die Mauer komplett auf dem Territorium Ost-Berlins gebaut worden. Ich glaube, wenn Kennedy klarer gesagt hätte, dass das Viermächteabkommen heilig und unveränderlich ist, so wie dies die US-Präsidenten Harry S. Truman und Dwight D. Eisenhower vor ihm klargestellt haben, hätte Chruschtschow im August den Mauerbau nicht riskiert.

Die Deutschen haben Kennedy mit seinem Satz vor Augen: "Ich bin ein Berliner". Wie kann ihm da Berlin so egal gewesen sein?

1961 hatte Berlin wenig Bedeutung für Kennedy. 1963, als er diesen Satz gesagt hat, war es anders. Zwei Jahre zuvor hat er drei Prioritäten: Er muss einen Atomkrieg abwenden. Er muss Amerikas Ruf bewahren, und er will wiedergewählt werden. Sein Ziel war, keinen einzigen Amerikaner in Berlin zu verlieren. Er wollte 1961 Abrüstungsgespräche mit den Russen führen. Und er hat gedacht, wenn er zulässt, dass die Mauer gebaut wird, würde er bereitwilligere Partner in Moskau finden. Das war eine fatale Fehleinschätzung. Ein Jahr danach haben wir die Kuba-Krise.

Inwieweit hängen beide Ereignisse zusammen?

Ich glaube, und meiner Meinung nach belegen das auch die Dokumente, dass Chruschtschow die Kuba-Krise nicht initiiert hätte, wenn er 1961 in Berlin nicht durchgekommen wäre. Er hätte niemals Atomwaffen so nah an Amerika stationiert, wenn er Kennedy nicht für schwach gehalten hätte. Viele argumentieren ja, die Berliner Mauer habe die Welt weniger gefährlich gemacht. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Die Mauer hat die Welt insoweit gefährlicher gemacht, dass es ein Jahr später fast zum Atomkrieg gekommen ist.

Hat Kennedy daraus gelernt?

Ich glaube schon. 1963 ist ein neuer Kennedy geboren, er ist gegenüber der Sowjetunion eher ein Hardliner geworden. Er hat entschieden, dass man gegen Moskau entschiedener auftreten muss. Und dann sagt er diesen Satz: "Ich bin ein Berliner." Ich glaube, dass er während der Fahrt durch Berlin ein Berliner geworden ist.

Wie kommen Sie darauf?

Er hat die Menschenmengen gesehen, er war überwältigt von den Berlinern. Da hat er seine Rede umgeschrieben. Nicht den Satz: "Ich bin ein Berliner". Aber die Sätze, die dorthin führten.

Wer war für den Mauerbau die treibende Kraft, Ulbricht oder Chruschtschow?

Ulbricht wollte schon 1952 die Grenze schließen. Dazu war Stalin nicht bereit. Dann starb Stalin, und Ulbricht versuchte es immer noch. Aber Chruschtschow wollte die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten verbessern, da hätte ein solcher Schritt gestört. Von Anfang Januar 1961 an machte Ulbricht dann ganz intensive Pläne, die Grenze zu schließen. Honecker wurde beauftragt, aber dafür brauchte Ulbricht Chruschtschows Zusage. Die hat er erst  nach der "Schweinebuchtkrise" im April bekommen, bei der Kennedy aus Chruschtschows Sicht Schwäche gezeigt hatte. Chruschtschows Sohn hat später berichtet, Chruschtschow habe kaum glauben können, wie unentschieden Kennedy vorging. Dann kamen die Wiener Gespräche, wieder versagte Kennedy. Da entscheidet sich Chruschtschow für die Zusage zum Mauerbau. Chruschtschow will kein Risiko eingehen, dass Amerika hart reagiert. Er hat im Oktober einen Parteitag, bei dem es auch um seine Karriere geht. Briefe belegen, dass Ulbricht umso stärker in Moskau war, je schwächer er in der DDR war. Moskau fürchtete einfach einen Zusammenbruch der DDR.

Wie groß war die Gefahr, dass ein Krieg ausbrechen könnte?

Sehr groß. Die Situation war eine Mischung aus Showdown und Schachspiel. Weder Kennedy noch Chruschtschow wollten Krieg. Beide haben auch versucht, einen Krieg zu vermeiden. Aber wenn Panzer voll bewaffnet 100 Meter voneinander entfernt stehen, dann braucht es nur einen nervösen Soldaten oder einen Fehler eines Kommandanten. Kriege entstehen öfter aus Missverständnissen als aus durchdachten Plänen.

Wie ist Ihre historische Sicht: Gab es eine Alternative zum Mauerbau?

1989 musste auch ein Flüchtlingsstrom gestoppt werden, da hat man auch eine Lösung gefunden. 1961 war die Sowjetunion nicht so am Ende wie 1989. Deshalb war sie eher bereit, für ihre Existenz zu kämpfen. Aber wir kennen die Alternativen nicht. Was wir wissen, ist, was die Entscheidung gebracht hat, die Mauer zu bauen und zu akzeptieren. Diese Entscheidung hat uns 28 Jahre Mauer gebracht, die Linien des Kalten Krieges wurden eingefroren und wir erlebten die Kuba-Krise. Aber die Mauer war nicht von vorherein eine abgemachte Sache, es hätte auch anders kommen können.

In Deutschland haben viele Menschen sehr emotionale Erinnerungen an die Mauer, ihren Bau und ihren Fall. Wie geht es Ihnen als Historiker damit?

Für mich ist das auch eine persönliche Geschichte. Meine Mutter ist in Berlin-Pankow geboren, mein Vater ist in der Nähe von Dresden aufgewachsen. Als Student habe ich meine Verwandten in der DDR besucht. Da habe ich zum ersten Mal Menschen erlebt, die nicht die Freiheit hatten, ihre Meinung frei auszusprechen, frei zu reisen. Deshalb habe ich auch in mein Buch persönliche Geschichten reingebracht. Ich wollte nicht nur von Kennedy und Chruschtschow, Ulbricht und Adenauer schreiben, sondern ich wollte auch von Berlin schreiben.

Mit Frederick Kempe sprach Solveig Bach>

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Basler Zeitung
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13.8.2011: <DDR plante einen Hightech-Wall> noch im Jahre 1988 - mit Infrarotschranken, Mikrowellenschranken, neuen Wachtürmen etc. pp.

aus: Basler Zeitung online; 13.8.2011;
http://bazonline.ch/ausland/europa/DDR-plante-einen-HightechWall/story/26427900

<Bis zuletzt experimentierte das SED-Regime an neuen technischen Methoden, um die Flucht in den Westen wirksamer zu stoppen.

Bildertexte:
1.
Die Hightech-Mauer sollte ohne Schusswaffen und Sperrzäune auskommen.
2. Solche Infrarotschranken waren auch Teil der modernisierten Mauer.

3. Die Zeichnung einer so genannten Mikrowellenschranke als «unsichtbare Grenzlinie», die im Fall von Grenzübertritten Alarm auslöst.

4. Das SED-Regime wollte auch neue Wachtürme – hier der Prototyp an der Berliner Friedrichstrasse – errichten.
5.
Noch wenige Wochen vor dem Untergang der DDR sagte SED-Chef Erich Honecker, «dass die Mauer noch 100 Jahre bestehen bleibt».

Noch ein Jahr vor der Wende von 1989 begann das Militärtechnische Institut der Nationalen Volksarmee (NVA) unter dem Arbeitstitel «High-Tech-Mauer-2000», das DDR-Grenzsystem des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Bis zuletzt experimentierte das DDR-Regime an neuen technischen Methoden, um Republikflüchtlinge effektiver an ihren Vorhaben hindern zu können. 50 Jahre nach dem Bau der Mauer schildern Historiker der Technischen Universität Berlin (TU) in einem Buch neue Details zur Baugeschichte des «antifaschistischen Grenzwalls».

Die nie umgesetzten Planungen sollten die Überwindung der sozialistischen Grenze zum Westen mit Sensortechnik und Elektronik verhindern - statt mit Sperrzäunen und Schusswaffen. Unter anderem wurde hierbei der computergesteuerte Einsatz von Mikrowellenschranken und seismischen Sensoren erwogen. Darüber hinaus sollte die Mauer streckenweise mit Hecken umpflanzt werden und damit ein «grünes» Hindernis bilden, das sich ins Landschaftsbild einpasste.

Auf Schusswaffen wollte das Regime jedoch nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Imagegründen verzichten. Sirenengeheul, laute Schüsse und grelle Suchscheinwerfer erregten Aufmerksamkeit für die Fluchtversuche bei der eigenen Bevölkerung und im Westen. Öffentlich bekanntgewordene Tote und Verletzte an der Mauer waren für die DDR mit internationaler Ächtung verbunden, wie die TU-Historiker schreiben.

Stasi suggerierte Angriffe von West-Berlinern auf die Mauer

Offensichtlich waren die DDR-Machthaber aber auf ein gutes Ansehen beim Klassenfeind bedacht. So erhielten etwa die Grenztruppen bei Abrissarbeiten 1980 von am Grenzwall liegenden Häusern in der Bernauer Strasse die strikte Anweisung, darauf zu achten, dass kein Abbruchmaterial auf westliches Territorium fällt. Zudem durfte dort an Sonn- und auch West-Berliner Feiertagen den Buchautoren zufolge nicht gearbeitet werden, um keine Spaziergänger zu stören.

Während ihres 28-jährigen Bestehens wurde die Mauer mehrfach modernisiert, aus Kostengründen jedoch nur abschnittsweise. Sie bestand zu Anfang überwiegend aus simplen Steinblöcken und Stacheldraht, später wurden vorgefertigte Betonteile aneinandergereiht. 1988 kosteten 20 der modernsten Mauersegmente aus Beton von je 1,20 Meter Breite mit 19'000 DDR-Mark etwa so viel wie ein Trabi.

Um die zivilen Planungsstellen von der Notwendigkeit der kostspieligen Modernisierung zu überzeugen, erstellte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Analysen und Statistiken, die ständige Angriffe der West-Berliner auf die Mauer suggerierten. Manche dieser Dokumente waren mit Zeichnungen versehen, die Bürger aus West-Berlin als Comicfiguren zeigten, die gerade mit Hämmern oder Steinen auf die Mauer losgingen.

Flüchtende wurden mit Technik, Hunden und Schüssen gestoppt

Tatsächlich wollten die Machthaber aber vor allem die eigenen Bürger an der Flucht hindern. Seit 1957 existierte der Straftatbestand «Republikflucht» offiziell im DDR-Recht. Im Selbstversuch erprobten die Grenztruppen etwa auf dem Übungsplatz im brandenburgischen Streganz mit Stoppuhr, wie lange Einzelpersonen oder Gruppen für die Überwindung brauchen würden.

Um Flüchtende besser zu erkennen, war die Mauer stellenweise mit hellen Kontrastflächen versehen, vor denen sich Personen auch nachts deutlich abhoben. Zusätzlich gab es mit hellem Sand oder Kies bestreute Kontrollstreifen, auf denen Fussspuren besonders sichtbar wurden. Darüber hinaus sollten speziell abgerichtete Hunde, die in Abständen von je 80 bis 100 Meter im Bereich der Grenzlinie angekettet wurden, Flüchtende laut bellend von deren Vorhaben abringen.

Letztlich scheuten die Grenzsoldaten auch nicht davor zurück, das Feuer auf unbewaffnete Flüchtende zu eröffnen: Laut Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam kamen an der Mauer mindestens 136 Menschen ums Leben. (vin/dapd)>

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Welt online,
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D: Mauerflucht im Handschuhfach des Cadillac 1964-1967

aus: Welt online: Deutsche Teilung: Flucht im Handschuhfach eines Cadillacs; 2.10.2011;
http://www.welt.de/kultur/history/article13497726/Spektakulaere-Flucht-im-Handschuhfach-eines-Cadillacs.html

Ein Cadillac der 1960er
                          Jahre
Ein Cadillac der 1960er Jahre [1]
Die
                          Cadillac-Fluchthelfer
Die Cadillac-Fluchthelfer: Die Fluchthelfer Burkhart Veigel (l.) und Hasso Herrschel in einem baugleichen Cadillac [4]. Das Original wurde von der CSSR-Grenzpolizei eingezogen. Von da an verliert sich seine Spur.
Mauerflucht
                          ("Republikflucht") im Handschuhfach
                          eines Cadillac, Schema
Mauerflucht ("Republikflucht") im Handschuhfach eines Cadillac, Schema [2]
Das Handschuhfach eines
                          Cadillac, ganz schön gross...
Das Handschuhfach eines Cadillac, ganz schön gross... [3]


<Autor: Sven Felix Kellerhoff

Hinter dem Armaturenbrett eines Cadillac brachten Fluchthelfer mehr als 200 DDR-Bürger in den Westen. Neue Bücher verraten weitere Tricks.

Ein Cadillac De Ville, Baujahr 1957, erwies sich als äußerst leistungsfähiges Fluchthelfergerät. Kein Grenzsoldat der DDR konnte sich vorstellen, dass hinter dem Armaturenbrett ein 1,40 Meter langes, 45 Zentimeter breites und 30 Zentimeter hohes Versteck befand, in dem Erwachsene spielend Platz fanden. Mehr als 200 Menschen wurden zwischen 1964 und 1967 mit dem Wagen von verschiedenen Fluchthelferorganisationen in den Westen gebracht. Um die DDR-Behörden zu verwirren, kam das Auto mit verschiedenen Nummernschildern und in diversen Farbtönen daher. Auch in einen Mercury oder Plymouth wurde es verwandelt.

Wer etwas zu verbergen hat, kann sich möglichst unauffällig benehmen – oder auffallen um jeden Preis. Mitte der sechziger Jahre gab es wohl keine Möglichkeit, beim Passieren des Eisernen Vorhangs quer durch Mitteleuropa mehr Blicke auf sich zu ziehen als in einem Cadillac De Ville Baujahr 1957 mit seinen riesigen Heckflossen und Weißwandreifen. Nicht einmal ein Prunkwagen des rheinischen Karnevals hätte weniger dezent sein können.

Mit dem Cadillac in den Westen flüchten

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb kamen mit eben diesem Cadillac zwischen 1964 und 1967 über 200 DDR-Bürger in die Freiheit – mehr als mit jedem anderen einzelnen Auto. Sie versteckten sich nicht wie bei anderen umgebauten Fluchtfahrzeugen in einem ausgehöhlten Sitz, einer trickreich manipulierten Rückenlehne oder einem doppelten Boden zwischen Kofferraum und Hinterachse. Denn der Cadillac hatte einen ganz besonderen Vorteil: ein gigantisches Armaturenbrett, unter dem kein Grenzkontrolleur nach einem verborgenen Menschen suchen würde.

Unterschenkel im Radkasten

1,40 Meter lang, 45 Zentimeter breit und 30 Zentimeter hoch war das Versteck; der Flüchtling legte sich mit dem Kopf in eine Art Schale rechts neben der Lenksäule und winkelte die Unterschenkel so ab, dass sie Platz im rechten Radkasten fanden. Geöffnet werden konnte das mit elektromagnetischen Zapfen verschlossene Armaturenbrett nur, indem man ein Metallstück in ein Loch im Zigarettenanzünder stieß. Das würde kein Kontrolleur tun, denn solche Anzünder standen normalerweise unter Spannung.

Von Oktober 1964 bis Mitte November 1967 lang nutzten drei verschiedene Fluchthilfe-Organisationen das Auto, mit oft wechselnden Fahrern, Nummernschildern und unterschiedlichen Farben – mal elfenbein-weiß, mal knallrot. Schließlich wurde sogar das Fabrikat des Wagen manipuliert: Aus dem Cadillac wurde in den Papieren und durch Austausch des Kühlergrills zuerst ein Mercury, dann ein Plymouth. Unterscheiden konnte das ohnehin kein Kontrolleur, und durchgesickert an die DDR-Staatssicherheit war lediglich, dass Flüchtlinge mit einem Cadillac „geschleust“ würden.

Die Details dieser ebenso dreisten wie erfolgreichen Aktion offenbart jetzt zum ersten Mal Burkhart Veigel, der die Idee zum Umbau des Cadillacs hatte. Er gehörte in den sechziger Jahren zu den zwei oder drei erfolgreichsten Fluchthelfer überhaupt, holte insgesamt rund 650 Menschen aus der SED-Diktatur in die Freiheit – und veröffentlicht die wichtigsten seiner Tricks in seinem Buch „Wege durch die Mauer“, das dieser Tage erscheint (Edition Berliner Unterwelten, Berlin, 432 Seiten, 19,95 Euro).

Fluchthilfe hat bis heute immer noch einen üblen Beigeschmack. Das ist eine Nachwirkung der SED-Propaganda, die schon unmittelbar nach dem Mauerbau gegen die vermeintlichen „Menschenhändler“ polemisierte. In der sozialistischen Weltsicht hatte die Tatsache keinen Platz, dass gerade jüngere, gut ausgebildete Menschen aus dem „Arbeiter- und Bauer-Staat“ keineswegs „abgeworben“ werden mussten. Vielmehr gab es seit der Grenzschließung 1961 bei hunderttausenden DDR-Bürgern den Wunsch, in Freiheit leben zu können.

750 flohen durch die Kanalisation

Dabei halfen ihnen vom 14. August 1961 an mutige West-Berliner und Bundesbürger auf den unterschiedlichsten Wegen. Einige Fluchtwege, intern „Touren“ genannt, führten mittels improvisierter Seilbahnen über den oder durch aufwendig gebuddelte Tunnel unter dem Todesstreifen hindurch. Die schmutzigste Fluchtmöglichkeit war bis in den Spätherbst 1961 die Berliner Kanalisation, die rund 750 DDR-Bürger benutzten.

Ab 1964 schlug die SED-Hetze gegen die vermeintlichen „Terroristen“ auch in westdeutschen Medien durch. Nachdem bei der erfolgreichsten aller Tunnelfluchten Anfang Oktober ein DDR-Grenzer bei einem Schusswechsel mit Fluchthelfern gestorben war, attackierte die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Tunnelbauer scharf und unterstellte ihnen, mit dem Fluchtstollen „viel Geld verdient“ zu haben. Ob diese Behauptung von der Stasi inspiriert war oder nicht, konnte bis heute nicht geklärt werden.

Monatelang wurde ein Tunnel gegraben

Zwei, die monatelang an diesem Tunnel der Gruppe um Wolfgang Fuchs mitgegraben haben, legen jetzt ebenfalls ein Buch vor. In „Fluchthelfer“ stellen Klaus-M. von Keussler und Peter Schulenburg dar, wie die Arbeit in der Gruppe um Fuchs tatsächlich ablief (Berlin-Story-Verlag, Berlin. 384 Seiten, 19,80 Euro).

Sie dokumentieren, auf welchen Wegen Großvorhaben wie die insgesamt fünf Tunnelbauten unter Leitung von Fuchs in Wirklichkeit finanziert wurden und widerlegen so die SED-Propaganda: Die Fluchthelfer sammelten bei verschiedenen Sponsoren Geld ein, außerdem bei westdeutschen Verwandten der DDR-Bürger. Ob jemand in die Freiheit geholt wurde, hing an persönlichen Beziehungen und Vertrauen, nicht an finanziellen Fragen.

Zu den spektakulären Aktionen gehörte eine Flucht im Norden West-Berlins. Pünktlich zum Wachwechsel genau um zwölf Uhr mittags sollten vier Flüchtlinge mit einem DDR-Auto Typ „Trabant“ am Wilhelmsruher Damm soweit wie möglich in die Sperren eindringen. Dann wollten Fluchthelfer Nebelgranaten werfen, um den überraschten Grenzern die Sicht zu versperren, und den Flüchtlingen durch den aufgeschnittenen Stacheldraht zur Hilfe kommen.

Allerdings misslang der Plan teilweise: Erst erwies sich der Trabbi als viel zu schwach, um die Straßensperren zu durchschlagen; stattdessen blieb das Auto gleich am ersten Schlagbaum stecken. Dann gelang die Vernebelung nicht: Die Fluchthelfer hatten offenbar die Zündschnüre zu kurz brennen lassen, bevor sie die Rauchtöpfe über die Grenze warfen. Die Grenzer eröffneten sofort das gezielte Feuer auf Flüchtlinge und Fluchthelfer; die beiden Frauen hatten Probleme, durch den Stacheldraht zu klettern. Trotzdem gelang die Flucht am helllichten Tag.

Der Ost-Berliner Stadtkommandant Helmut Poppe, Chef der Grenztruppen rund um West-Berlin, zog aus dem Ereignis den Schluss, dass „nunmehr Klarheit zu schaffen ist, dass trotz Anwendung von Nebelmitteln durch den Gegner Grenzverletzer durch wirksame Feuerführung (Dauerfeuer) zu vernichten sind“. Ähnlich rücksichtslos, aber heimlich ging die Stasi vor.

Zahlreiche Spitzel wurden auf die „Schleuser“ angesetzt, viele Fluchtwillige und ihre Helfer gingen ins Netz. Keinen Erfolg hatten die Versuche, die Gruppe um Wolfgang Fuchs zu infiltrieren. Also verlegte man sich auf öffentliche Desinformation, etwa durch Walter Barthel alias IM „Kurt“, der als freier Journalist unter anderem für den „Kölner Stadtanzeiger“ tätig war. Er sollte eine angeblich bevorstehende „Tunnelschleusung“ bekannt machen und so zum Scheitern zu bringen. Doch die Zeitung weigerte sich, zum „Tunnelverräter“ zu werden, musste Barthel seinen Auftraggebern mitteilen.

Fluchthilfe war Widerstand

Gut zwei Jahre später war Barthel der geheime Kopf der Kampagne gegen Axel Springer in West-Berlin: In seinem teilweise aus der DDR finanzierten „Extra-Blatt“ formulierte er neben Attacken auf Fluchthelfer scharfe Angriffe auf den Verleger und sein Unternehmen, in dem auch „Die Welt“ erschien und erscheint.

Eine Nachwirkung des konzentrierten Angriffs der Stasi auf die Fluchthelfer in den sechziger Jahren ist, dass viele von ihnen bis heute untereinander zerstritten sind. Auch deshalb ist die Leistung der seriösen Fluchthelfer (es gab auch Kriminelle) bis heute nicht angemessen gewürdigt worden. Veigel, von Keussler und Schulenburg wollen das ändern: Fluchthilfe war Widerstand.

Den umgebauten Cadillac übrigens verkaufte Burkhart Veigel Anfang 1967 an Wolfgang Fuchs, der damit rund 80 DDR-Bürger in den Westen schmuggelte. Dann fiel die Limousine einem tschechischen Wachposten auf, zwei Fluchthelfer wurden für einige Zeit inhaftiert, aber nicht an die DDR ausgeliefert. Das umgebaute Auto blieb konfisziert. Damit verliert sich die Spur des spektakulären Fluchtvehikels.>

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Spiegel
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3.10.2011: Die Flucht im Tunnel - und die Bombe der Stasi wurde manipuliert und zündete nicht

aus: Spiegel online: Fluchthelfer-Drama: Das Rätsel des unbekannten Stasi-Helden; 3.10.2011;
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/23561/wer_sabotierte_die_stasi.html

Mauerflucht
                ("Republikflucht") im Tunnel
Mauerflucht ("Republikflucht") im Tunnel  [5]

<Im Kriechgang: Ein Seil und eine Taschenlampe waren die einzigen Hilfsmittel, die den Tunnelgräbern zur Orientierung dienten. Über 70 Meter weit gruben sie sich von Zehlendorf aus in Richtung Kleinmachnow. Die Aufnahme zeigt den Fluchthelfer Wolfgang Z., von seinen Kumpanen "Bibi" genannt, im Tunnel.

Mit einer vorbereiteten Sprenglandung wollte die Stasi 1962 in Berlin einen Fluchttunnel zerstören - Fluchthelfer inklusive. Doch die Detonation blieb aus, der Sprengsatz war manipuliert worden. Von wem, fand die Stasi nie heraus. Nun sucht einer der Fluchthelfer aus dem Westen den Helden aus dem Osten. Von Solveig Grothe

Boris Franzke hat die Geschichte schon oft erzählt. Wie sie damals, mit Anfang 20, die Tunnel gruben. Wie sie in Berlin kurz nach dem Mauerbau zu Experten für Bodenaushub avancierten: Leichter Sand hier, fester Lehm dort, fast jeden Quadratmeter kannten sie in der Stadt. Der Job war nicht ohne Risiko, doch darüber dachten sie nicht viel nach. Jetzt aber, 50 Jahre später, da Franzke seine eigene Geschichte in Büchern und Akten nachlesen kann, stockt ihm fast der Atem.

Mehr als ein halbes Dutzend Mal hatte er zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Eduard und anderen von der Westseite aus Tunnel nach Ost-Berlin gegraben, um Menschen bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Die Franzkes hatten selbst einmal dort gelebt - bevor der Vater verhaftet und in ein sowjetisches Straflager gesteckt worden war. 1955 war er freigekommen, die Familie daraufhin nach West-Berlin gezogen. "Unsere Freunde aber hatten wir immer noch im Osten", erinnert sich Boris Franzke und daran, "wie wütend" sie gewesen seien, als die DDR 1961 die Mauer baute. "Ich hatte meine Verlobte drüben in Ost-Berlin, mein Bruder seine Frau und zwei Kinder. Auch unsere Schwester lebte dort."

Der Bruder hatte dann die Idee mit dem Tunnel. Doch der Plan war aufgeflogen, noch bevor er umgesetzt werden konnte. Die Angehörigen waren verhaftet und erst nach mehrjährigen Haftstrafen in den Westen entlassen worden. Entmutigt hatte das die Fluchthelfer nicht: "Es machte uns nur noch wütender - und motivierte uns." Sie gruben weiter, Tunnel für Tunnel - und holten Dutzende Menschen in den Westen.

50 Jahre später nun sollte Boris Franzke erfahren, wie sich sein Job für die andere Seite darstellte, aus Sicht der Staatssicherheit etwa, deren Akten mittlerweile ausgewertet sind. Es traf ihn wie ein Schlag: Denn Franzke weiß nun, dass er eigentlich hätte tot sein sollen, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Nach dem Plan der Anderen. Noch absurder, unfassbarer aber erscheint ihm die Erkenntnis, dass es ausgerechnet ein Stasi-Mann gewesen sein soll, der ihm, dem Fluchthelfer, das Leben rettete. Boris Franzke, mittlerweile 72 Jahre alt, will den Mann nun finden. Die Geschichte ist für ihn aktueller denn je.

Durchbruch nach Kleinmachnow

Es war im Spätsommer 1962, als der Schöneberger Autovermieter Bodo P. die Fluchthelfer Franzke sowie Klaus G., Wolfgang Z., genannt Bibi, und den ebenfalls als Fluchthelfer aktiven ehemaligen DDR-Bahnradmeister Harry Seidel anheuerte. Bodo P. wollte seine Familie und weitere Fluchtwillige, die in einem Haus fast direkt an der Zonengrenze wohnten, in den Westen holen.

Seine Idee: Von Zehlendorf aus sollte ein Tunnel unter dem Grenzzaun und zwischen der ersten Häuserreihe hindurch bis zum Keller jenes Einfamilienhauses Wolfswerder 29 im brandenburgischen Kleinmachnow führen. Die Bodenbedingungen waren günstig und auch die Tatsache, dass sich gegenüber des Hauses auf West-Berliner Seite gerade eine Großbaustelle befand. Auf der Brache entstanden Einfamilienhäuser. Eine Baubude mehr oder weniger würde überhaupt nicht auffallen, so das Kalkül.

Bodo P. hatte entsprechende Vorbereitungen getroffen: Nur acht Meter vom Grenzzaun entfernt hatte er eine Hütte errichtet, die groß genug war, um fünf Männern als Ess- und Schlafraum zu dienen und außerdem das in Säcke gepresste Erdreich zu beherbergen. Von der Hütte aus sollte eine rund 80 Zentimeter durchmessende Röhre in etwa drei Meter Tiefe rund 70 Meter weit in leichtem Bogen bis zum Keller des Hauses Wolfswerder 29 führen. Damit niemand Verdacht schöpfte, hatte Bodo P. noch ein Firmenschild an die Hütte genagelt: "Gärtnerei Immergrün".

Eines Nachts Anfang Oktober bezogen die Männer ihr Quartier - und schufteten von da an rund um die Uhr. Auf dem Rücken liegend und mit kurzem Spaten trieben sie den Stollen in den folgenden fünf Wochen voran. Einfach war es nicht, im Dunkeln die Richtung zu halten. Eine Taschenlampe und ein Seil waren die einzigen Hilfsmittel, erklärt Franzke: "Wenn das Seil und der Lichtkegel der Taschenlampe gerade liefen, wussten wir, das wir auf dem richtigen Weg waren."

Auf der anderen Seite

Was sie nicht wussten: Bereits am Morgen des 11. November hatte die Stasi das Haus Wolfswerder 29 gestürmt und die 13 darin versammelten Fluchtwilligen verhaftet. Die Verständigungszeichen aber, die den West-Berlinern signalisieren sollten, dass die Fluchtvorbereitungen im Osten nach Plan liefen, ließen die Häscher weiter ausführen.

In Ost-Berlin erhielt Oberstleutnant Richard Sch. am Nachmittag des 12. November einen Anruf: Er möge sich beim Genossen Oberst melden - ein Auftrag. Sch. war der Sprengmeister seiner Abteilung. Er ging ins Labor und besorgte das benötigte Material: 2,5 Kilogramm TNT, 2,5 Kilogramm Hexogen, zwei parallel geschaltete Sprengkapseln, ein 70 Meter langes doppeladriges Kupferkabel, eine Trockenbatterie 12 Volt und einen 25 mal 15 Zentimeter großen Leinenbeutel.

Gegen 18.30 Uhr traf Sch. auf dem Parkplatz Normannenstraße ein. Vom Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) holte ihn ein Genosse ab, gemeinsam fuhren sie nach Kleinmachnow, zum Grundstück Wolfswerder 29, auf dem bereits Kollegen warteten.

Das Sprengloch für die Ladung war bereits ausgehoben. Es lag zwischen Nr. 32 und 34, zwei Wohnhäusern direkt an der Grenze, die wie alle Grundstücke im Sperrgebiet nur mit einem speziellen Passierschein erreichbar waren. Genau da, wo die Stasi den Fluchttunnel vermutete. Richard Sch. legte die Ladung in den Boden, schüttete das Loch zu und bedeckte die Stelle mit Laub. Das Kabel führte er über die Straße in den Garten von Nr. 29.


2. Teil: Die Luft wird knapp

aus: http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a23561/l0/l1/F.html#Das Rätsel des unbekannten Stasi-Helden

Die fünf im Tunnel arbeiteten derweil nur noch am Tage. Knapp 20 Meter vor dem Ziel fürchteten sie, Grenzsoldaten könnten sie sonst hören. "Wir haben uns nur im Flüsterton unterhalten", erinnert sich Boris Franzke. Die Anstrengungen setzten ihnen zu, vorn im Tunnel war es stickig, der Sauerstoff knapp. Sie hofften, es bald geschafft zu haben.

Von ihrer Hütte aus konnten sie durch einen Spalt das angepeilte Haus beobachten. Zu bestimmten Zeiten, so hatte es ihnen Bodo P. erklärt, würde da drüben jemand auftauchen, der ein Fenster putzt oder im Vorgarten harkt - das sei ihr Zeichen. Solange diese Zeichen von der Ostseite kämen, sei dort drüben alles in Ordnung.

Im Tunnel selbst hatten sich unerwartete Schwierigkeiten ergeben: "Eigentlich hätten wir schon längst an der Grundmauer dran sein müssen, aber wir hatten uns wohl etwas verkalkuliert."

Noch acht Meter!

Richard Sch. harrte währenddessen mit seinen Kollegen und dem Zünder im Garten von Haus Nr. 29 aus. Sie warteten auf die Tunnelgräber. Als sich bis 4 Uhr nichts ereignete, rollte er das Kabel auf, vergrub es am Sprengloch und fuhr zurück nach Berlin. Um 18 Uhr sollte er wieder in Kleinmachnow sein.

Boris, Eduard und die anderen kamen nur langsam voran. Zu langsam. "Dann haben wir entschieden, nach oben durchzubrechen. Zum einen würden wir dann sehen, wo wir uns befanden. Zum anderen hätten wir dann ein Luftloch und könnten besser graben."

Es war Nacht, als einer von ihnen den Kopf aus der Öffnung steckte: noch mindestens acht Meter bis zur Grundmauer! Sie bedeckten das Loch mit Zweigen und gruben weiter. Ab dem 11. November, so hatte Bodo P. ihnen gesagt, würden sich die Leute für die Flucht bereithalten. Den 14. November hatte er ihnen als letztmöglichen Termin gesetzt. "Wir konnten es nicht mehr aufschieben." Die Zeit lief ihnen davon.

Einer muss raus

Auch in der Nacht zum 14. passierte nichts - Sprengmeister Sch. rollte sein Kabel erneut ein. Gegen Abend war er zurück in Kleinmachnow - und erfuhr, dass die Genossen die Stelle, von der aus die Ladung gezündet werden sollte, vom Garten ins Haus verlegt hatten. Wieder wurde das Kabel über die Straße geführt. Das Ende reichte Sch. seinem Kollegen durch das Kellerfenster.

Inzwischen war es 20 Uhr. Sch. stand nun selbst am Kellerfenster, als ihn der Kollege auf zwei Jugendliche aufmerksam machte, die auf der Straße Wolfswerder, genau zwischen Nr. 32 und 34, standen: ein 17-jähriges Mädchen aus Nr. 32 und ein Junge aus der gleichen Straße. "Wenn die beiden nicht verschwinden, können wir nicht sprengen", flüsterte der Kollege. Keine zwölf Meter war das Paar von der Ladung entfernt.

Die Zeit war abgelaufen. Noch immer hatten die Tunnelgräber die Grundmauer nicht erreicht, ihnen blieb keine Wahl: Einer von ihnen musste raus und den Flüchtlingen im Haus sagen, dass der Einstieg im Vorgarten lag. Aber wer? "Mein Bruder wollte rausgehen", erinnert sich Boris Franzke, "aber ich hatte Angst um ihn und wollte stattdessen lieber selber gehen. Doch er meinte, 'das kommt nicht in Frage'. 'Okay, dann geh ich', sagte Harry Seidel. Und dann ist er gegangen."

"Zünden!"

Ungefähr drei Meter waren es bis zur Oberfläche. Nachdem Seidel rausgekrochen war, stieg Boris auf die Schultern eines Freundes. Er konnte sehen, dass es noch gut zwei Meter waren bis zum Haus - und wie Harry im Dunkeln um die Hausecke verschwand.

"Zünden!" Sch. hatte das Kommando gehört, doch er zögerte - der Junge und das Mädchen standen noch immer auf der Straße. "Das Liebespärchen!", rief er seinem Vorgesetzten zu. "Ich weiß!", antwortete der, "zünden!" Der Sprengmeister führte den Befehl aus. Doch nichts passierte.

Unten im Tunnel warteten sie auf Harrys Rückkehr. Auf einmal waren draußen Schritte zu hören. "Boris, Bibi, kommt mal raus, wir müssen noch einen Kranken transportieren", hörten sie jemanden rufen. Harry? Ein Lichtkegel fiel in den Schacht. "Mensch, das sind Vopos", flüsterte Eduard und riss seinen Bruder zurück. So schnell sie konnten, krochen die vier in den Westen.

Es war bereits nach 22 Uhr, als Sch. die Erlaubnis erhielt, die Sprengladung zu prüfen. Er nahm das Kabel in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten. Als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Nr. 32 ankam, schnellte ihm das Kabelende entgegen.

Sabotage!

Den Franzkes war klar, dass ihr Tunnel verraten worden war. Von wem, das fanden sie nie heraus. Den Fluchthelfer Harry Seidel verurteilte die DDR-Justiz am 29. Dezember 1962 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft, 1966 konnte er von der Bundesrepublik freigekauft werden.

Von der Sprengfalle allerdings sollten die West-Berliner Tunnelbauer erst knapp 50 Jahre später erfahren. Boris Franzke ist fassungslos: "Wir befanden uns doch mit Ostdeutschland nicht im Krieg. Wenn man es so sieht, war das versuchter vierfacher Mord!"

Erst recht aber sollte niemand erfahren, was sich in den Tagen und Wochen nach dem Vorfall bei der Staatssicherheit abspielte. Die Technische Untersuchungsstelle des MfS stellte fest, dass das Kabel mit einem verhältnismäßig stumpfen Messer oder einem ähnlichem Gegenstand zerschnitten worden war. Es war also nicht gerissen oder etwa beim Vergraben mit einem Spaten durchtrennt worden.

Da das Sperrgebiet nicht frei zugänglich war, blieb der Kreis der Verdächtigen überschaubar. Wie die Buchautoren Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff und Burkhart Veigel herausfanden, ermittelte die Stasi mit Hochdruck in den eigenen Reihen. Die an der Operation beteiligten Genossen und NVA-Soldaten mussten handschriftlich Bericht erstatten und wurden verhört, so auch Sprengmeister Richard Sch. Zu einem Ergebnis führte die Untersuchung nach den bislang bekannten Akten offenbar nicht. Die Autoren kommen aber zu dem Schluss, dass "einer der anwesenden Stasi-Leute die Sprengung sabotiert haben muss".

"Das ist für mich ein absoluter Held", sagt Boris Franzke. Dass ein Stasi-Mann oder ein NVA-Soldat eine Sprengung verhindert, "weil er das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann" und dabei selbst eine riesige Gefahr für sein Leib und Leben eingehe, da er dabei beobachtet werden könnte - "das ist eine einmalige Sache. Ich hoffe, dass er vielleicht später irgendjemandem davon erzählt hat, denn ich würde ihn gern finden, um ihm zu danken. Er hat uns vieren, die wir noch im Tunnel waren, das Leben gerettet!"


Können Sie Boris Franzke helfen, seinen Retter zu finden? Kennen Sie den Fall oder Personen, die daran beteiligt waren? Haben Sie Hinweise, wer die Sprengung verhindert haben könnte? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail oder diskutieren Sie mit anderen Lesern in der Debatte!

Zum Weiterlesen:

Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff: "Die Fluchttunnel von Berlin", Propyläen Verlag, Berlin 2008, 288 Seiten.

Burkhart Veigel: "Wege durch die Mauer - Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West", Edition Berliner Unterwelten, Berlin 2011, 431 Seiten.
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Spiegel
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10.11.2011: Gebietstausch an der Berliner Mauer 1988 in Wedding - und der neue Schutzwall wurde am Tag des Mauerfalls fertig

aus: Spiegel online: Bau auf, reiss ein! 10.11.2011;
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/23885/bau_auf_reiss_ein.html

<Biete Gebiet: Noch 1988 tauschten DDR und BRD munter Teilstücke des geteilten Berlins. Der Osten sicherte sich ein Stück vom Wedding - und schützte die neue Eroberung mit einer Mauer. Doch der Wall wurde zum Treppenwitz der deutschen Geschichte. Fertig war er ausgerechnet am Tag des Mauerfalls.

Von Paco Prückner

Auf dem Todesstreifen ist es am Morgen des 11. November 1989 sehr lebendig. Soldaten stehen zu Dutzenden nebeneinander und unterhalten sich, ein schwerer Bagger rollt über das sandige Gelände und ebnet den Weg. Hier, zwischen Eberswalder Straße und Bernauer Straße, ist in der Nacht der erste wilde Grenzübergang in Berlin entstanden: Mit schwerem Gerät wurden hier die drei Mauern aufgerissen, die die DDR errichtet hatte, um ihre Bürger einzusperren.

Am Morgen strömen Tausende Bürger aus dem Ostteil in den Westen und werden dort von jubelnden West-Berlinern begrüßt. Auf ihrem Weg passieren sie zunächst die klaffende Lücke in der Hinterlandmauer, der östlichsten Befestigung. In der Mitte des Grenzstreifens liegt die Vorderlandmauer, diese ist ebenfalls aufgebrochen. Und auch die letzte Mauer ist zerstört. Doch sie unterscheidet sich von den beiden anderen Befestigungen: Ihr Beton ist erst vor kurzem getrocknet.

Die Geschichte dieser dritten Mauer ist bemerkenswert - und doch in Vergessenheit geraten. Sie ist die letzte in der DDR gebaute Mauer - und das, was dort ab März 1989 bis zur Grenzöffnung passierte, ein Schnelldurchlauf der ostdeutschen Mauergeschichte. Wo anderswo fast dreißig Jahre zwischen Bau und Abriss lagen, waren es dort gerade acht Monate. Und dort trug sich auch die vielleicht größte Ironie der Wendezeit zu. Als die Grenzen bereits offen waren, wurde an dieser Mauer noch gebaut.

Stadion mit Aussicht

Alles hatte 1988 begonnen, als sich BRD und DDR auf einen Gebietstauschhandel einigten. Der Tausch bescherte der DDR unter anderem 7,5 Hektar Land im West-Berliner Bezirk Wedding, direkt an der innerstädtischen Grenzlinie. Schon lange hatte es die DDR-Regierung auf die westliche Fläche abgesehen, denn es gab an diesem Ort ein ernstes Problem: den Friedrich-Ludwig-Jahn Sportpark im Ortsteil Prenzlauer Berg.

Noch immer kann man den Grund der damaligen Befürchtungen erkennen: Ein Rest der Hinterlandmauer zeigt, wie dicht der Betonwall damals am Stadion stand, er diente sogar als unmittelbare Begrenzung der Sportstätte. Nirgendwo sonst kamen Ost-Berliner dem Westen so nahe wie beim Besuch eines Fußballspiels in Jahn-Sportpark. Bei Partien des von der Staatssicherheit geförderten BFC Dynamo gegen westliche Mannschaften wurden deshalb von den rund 20.000 Zuschauerplätzen bis zu zwei Drittel von Parteimitgliedern in Beschlag genommen.

Zudem steht das Stadion auf einer Anhöhe. Unten, wo der Boden wieder eben wird, stand die Vorderlandmauer und davor lag das Westberliner Gebiet. Genau am Hang fand der Grenzstreifen - im Westen auch Todesstreifen genannt - seinen Platz. Der Grenzhang stellte ein weiteres Problem dar, denn das abschüssige Gelände war überwiegend nur zu Fuß begehbar und deshalb schwer kontrollierbar. Mit dem Gewinn der ebenen Westfläche davor konnten die Probleme endlich gelöst werden. Der Grenzstreifen sollte auf einer Länge von über einem Kilometer um etwa 50 Meter verbreitert und mit einer dritten Mauer abgeriegelt werden.

Ein bizarres Schauspiel

Am 13. März des Wendejahres 1989 beginnen die Bauarbeiten für die schnurgerade neue Vorderlandmauer. Geplante Fertigstellung: der 30. November des gleichen Jahres. Das Projekt wird zielstrebig vorangetrieben - schon am 8. November 1989 ist die Mauer weitgehend fertig. Gearbeitet werden soll jetzt unter anderem noch am Signalzaun und der Beleuchtung des Grenzstreifens, die Anlage kann bald in Betrieb gehen.

Der nächste Tag ist der 9. November, ein Donnerstag - und ein ganz normaler Arbeitstag. Tagsüber wird noch am Grenzstreifen gewerkelt, am Abend aber überstürzen sich die Ereignisse. Regierungssprecher Günter Schabowski verkündet völlig überraschend die Reisefreiheit für die DDR-Bürger. Am Grenzübergang Bornholmer Straße heben sich die Schlagbäume.

Am Abend des 10. November spricht sich in den Häusern rund um die Mauer an der Eberswalder Straße eine weitere unerhörte Nachricht herum: Der Wall bricht. Rasch kommen Anwohner herbeigelaufen, um sich bei aufkommender Volksfeststimmung ein bizarres Schauspiel anzugucken. Denn ausgerechnet hier, am neuesten Mauerabschnitt, werden jetzt die ersten Stückelemente aus der Berliner Mauer gerissen, um durch einen weiteren Grenzübergang die versprochene Reisefreiheit zwischen Ost und West umzusetzen.

Eine Schneise wird zur Flaniermeile

Dass man den ersten Durchbruch des ungeliebten Grenzwalls genau dort vollzieht, wo wenige Stunden zuvor noch penibel an seiner Errichtung gearbeitet wurde, scheint unlogisch, liegt auf den zweiten Blick jedoch nahe: Die meisten Baugeräte waren bereits vor Ort - nur dass man mit ihnen nun einriss statt aufzubauen.

Aus der nicht mehr genutzten weiten Fläche mit den drei Mauern wurde vier Jahre später ein Park, der "Mauerpark". Seit dem Einweihungsjahr 1994 wird er von Jahr zu Jahr beliebter und hat sich längst über Berlins Stadtgrenzen hinaus einen Namen gemacht. Zehntausende suchen hier inzwischen an einem sonnigen Tag Platz zum Feiern oder Faulenzen. Von der Vorderlandmauer ist nur ein schmaler, unscheinbarer Pfad geblieben.>

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27.3.2012: Tunnelbau nach Berlin-Neukölln: Die Stasi schiesst derart, dass einer der Tunnelbauer nach der Flucht stirbt

aus: Welt online: Der Tunnelbauer starb im Feuer der Kalaschnikow; 27.3.2012;
http://www.welt.de/kultur/history/article13949311/Der-Tunnelbauer-starb-im-Feuer-der-Kalaschnikow.html

<Zwischen 35 und 57 Menschen flohen nach dem Mauerbau durch den Tunnel nach Berlin-Neukölln. Dann stellte die Stasi 1962 Heinz Jercha und Harry Seidel eine Falle. Für Jercha brachte sie den Tod.

Von Sven Felix Kellerhoff.

Die Falle ist perfekt. Vier bewaffnete Stasi-Leute warten in der Wohnung von Horst Br. im ersten Stock des Hauses Heidelberger Straße 75, drei weitere im Parterre. Das Haus liegt unmittelbar an der innerstädtischen Grenze; längs der Straße trennt der „antifaschistische Schutzwall“ aus Stacheldrahtbarrieren und einer grob aufgeschichteten Mauer die Freiheit in Neukölln von der Diktatur in Treptow. Doch quer unter der Straße verläuft, 15 Meter lang und knapp zwei Meter unter dem Asphalt, ein Fluchttunnel. Auf seinen Erbauer, den Fluchthelfer Harry Seidel, haben es die Männer der DDR-Staatssicherheit (MfS) abgesehen.

Es ist genau 20.49 Uhr am Dienstagabend, dem 27. März 1962, als es an der Wohnungstür klopft. Verabredet ist, dass der Mieter, der als IM „Naumann“ in Diensten der Stasi steht, den späten Besucher einlässt, dann das Licht löscht und so eine Festnahme ermöglicht.

Dem Stasi-Leutnant gehen die Nerven durch

Doch in diesem Moment gehen dem Stasi-Leutnant namens Ruß die Nerven durch. Er reißt die Tür auf und schreit „Hände hoch!“ Der überraschte junge Mann im Treppenhaus ergreift instinktiv die Flucht Richtung Hof, und Ruß eröffnet sofort das Feuer aus seiner Kalaschnikow.

Aufgeschreckt beginnt der zweite Stasi-Trupp, den ein Leutnant namens Forkel anführt, aus seinem Versteck im Erdgeschoss zu schießen. Doch sie sehen nur einen Schatten, der zur Kellertür hastet. Der junge Mann rennt die Kellertreppe runter, biegt erst links in den Gang, dann rechts in den letzten Kellerraum ab und hechtet in ein dunkles Loch in der Außenwand.

„Wie ein D-Zug“ robbt er den gerade einmal 50 Zentimeter hohen und nur wenig breiteren Stollen entlang Richtung Neukölln. Ein zweiter junger Mann, der im Keller gewartet hat, verrammelt noch die Tür von innen, dann folgt er seinem Freund durch den Tunnel. Kaum sind die beiden auf Neuköllner Seite angekommen, hasten sie in den Flur des Hauses Heidelberger Straße 35. Doch hier bricht Heinz Jercha ohnmächtig zusammen und stirbt wenig später.

Reste von drei Fluchttunneln entdeckt

Diese dramatische Konfrontation von zwei Fluchttunnel-Gräbern und der Stasi ereignete sich vor 50 Jahren. Zum Gedenken an den von Stasi-Kugeln getöteten Fluchthelfer enthüllte der Verein Berliner Unterwelten am ehemals West-Berliner Haus Heidelberger Straße 35 am Jahrestag eine Tafel; das Haus auf der Gegenseite mit der Nummer 75 sprengten die DDR-Grenztruppen schon vor Jahrzehnten.

Bei den Vorbereitungen für den Jahrestag haben die Forscher um Vereinschef Dietmar Arnold zusammen mit dem früheren Fluchthelfer Burkhart Veigel in den Kellern auf West-Berliner Seite Reste von drei Fluchttunneln gefunden. Sie lassen die Enge der Stollen spüren und sollen bei speziellen Führungen gezeigt werden.

Anwesend sein war bei der Tafelenthüllung auch Harry Seidel. Er wartete vor 50 Jahren im Keller des Ost-Berliner Hauses auf seinen Freund Heinz Jercha und verbarrikadierte nach dessen Hechtsprung in den Tunnel die Tür. Als seinerzeit erfolgreichster Fluchthelfer war Seidel das eigentliche Ziel des siebenköpfigen Stasi-Trupps, und nur um ihn festzunehmen, wartete das MfS mit dem Zugriff auf den schon Tage zuvor verratenen Fluchttunnel bis zum 27. März.

Das Jahr 1962 war die Hochzeit der Tunnelfluchten, und Harry Seidel gehörte zu den aktivsten Stollengräbern. Zusammen mit dem Fleischer Fritz Wagner, seines Körperumfanges wegen „der Dicke“ genannt, organisierte er mehrere Fluchtaktionen. Wagner ließ sich dafür bezahlen, für Seidel war es eine Art Protest gegen die SED . Knapp zwei Wochen hatten Harry Seidel und einige Helfer gegraben, um den Stollen aus dem West-Berliner Keller nach Ost-Berlin voranzutreiben.

Nicht nur das Graben selbst war lebensgefährlich, weil der enge Tunnel nicht abgestützt werden konnte. Vor allem nach dem Ausstieg auf der Ostseite drohte den Fluchthelfern Gefahr. Einer von ihnen war bereits von DDR-Grenzern erschossen worden, Dieter Wohlfahrt im Dezember 1961. Zwei Nächte lang holten sein Freund Heinz Jercha, andere Helfer und er Flüchtlinge durch den Tunnel in den Westen. Die Kontakte in Ost-Berlin hatte meist Fritz Wagner hergestellt. Wie viele Menschen den Tunnel nutzten, ist unklar; es waren mindestens 35, vielleicht aber auch bis zu 57.

„Immer gehst du. Jetzt lass mich mal!“

Doch inzwischen hatte die Stasi von ihrem Spitzel IM „Naumann“ alias Horst Br. erfahren, dass es im Haus den Ausstieg eines Fluchttunnels gab – und dass Harry Seidel der Anführer war. Die zuständige MfS-Hauptabteilung I hatte nun zwei Möglichkeiten: Entweder den Stollen sofort aufdecken und weitere Fluchten unterbinden – oder Seidel in eine Falle locken.

Mielkes Männer entschieden sich für die zweite Möglichkeit, denn sie wussten, dass Seidel immer wieder neue Fluchtwege auskundschaften würde. Um das zu verhindern, nahmen sie es sogar hin, dass ein älteres Ehepaar im Keller verschwand und flüchtete. Sie sollten die Letzten sein, die an diesem Abend flüchten – und wurden die letzten überhaupt, für die der Fluchttunnel von Haus 75 zum Haus 35 ein Weg in die Freiheit war.

Wie an den vorangegangenen Abenden wollte Harry Seidel nun hochgehen zu Horst Br., um den Hausschlüssel zu holen. Doch auf einmal sagte sein Freund Heinz Jercha: „Immer gehst du. Jetzt lass mich mal!“ Der spontane Einfall wurde zu seinem Todesurteil.

Ein Querschläger vom Kaliber 7,65 Millimeter

Nach Jerchas Tod attackierten West-Berlins Zeitungen die DDR wegen des Mordes an dem Fluchthelfer. Die SED-Propaganda hielt dagegen , behauptete sogar, Seidel habe seinen Freund selbst getötet. Doch der Obduktionsbefund widerlegte diese Lüge: Aus Seidels Waffe im Kaliber 6,35 Millimeter war nicht gefeuert worden, Jercha dagegen durch einen Querschläger im Kaliber 7,65 Millimeter tödlich verletzt worden. Nach Burkhart Veigels Recherchen war es wahrscheinlich der Stasi-Leutnant Forkel, der den entscheidenden Schuss abgab.

Ein halbes Jahr später schoss derselbe Offizier übrigens nur hundert Meter weiter abermals auf einen West-Berliner Tunnelgräber und verletzte ihn schwer. Bestraft wurde Forkel nie – inzwischen ist er eines natürlichen Todes gestorben. An sein Opfer Heinz Jercha aber erinnert jetzt am Tatort eine Tafel.>

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Welt
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22.4.2012: Fluchttunnel in Neu-Köln

aus: Welt online: Mauerbau: Die meisten Fluchttunnel gab es in Berlin-Neukölln; 22.4.2012;
http://www.welt.de/kultur/history/article106140295/Die-meisten-Fluchttunnel-gab-es-in-Berlin-Neukoelln.html

<In der Heidelberger Straße 36 zwischen Neukölln und Treptow gruben gleich verschiedene Fluchthelfer-Gruppen 1962 Tunnel in den Osten. Doch sie wurden verraten. Ein Team entkam der Staatssicherheit.

Von Daniela Stoltenberg

Das enge Loch macht Peter Arndt keine Angst: "Es ist mir ja vertraut", scherzt der Jurist, als er in die dunkle Öffnung im Keller des Hauses Heidelberger Straße 36 in Berlin-Neukölln steigt. Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass der Westdeutsche zusammen mit seinem Bruder Dieter und dem West-Berliner Jürgen Dill begonnen hat, genau hier einen Tunnel unter der Mauer hindurch nach Treptow im Ostteil der Stadt zu graben. Dass er hierher noch einmal zurückkommen, noch einmal den rund einen halben Meter breiten Stollenbeginn sehen würde, hätte er nicht geglaubt.

Doch Ende 2011 klingelte sein Telefon: "Jürgen Dill hier, Du kannst mich auch ‚Kümmel’ nennen", meldete sich der Anrufer. Den Namen hatte Arndt fast vergessen, nicht aber den Spitznamen seines alten Weggefährten beim Tunnelbau.

Nirgendwo in der Welt sind mehr unterirdische Fluchtwege gegraben worden als in Berlin in den ersten Jahren nach dem Bau der Mauer. Der Verein Berliner Unterwelten setzt sich seit langem für die Aufarbeitung dieser Geschichte ein. Zum 50. Todestag des Fluchthelfers Heinz Jercha am 27. März 1962 hatten sich die rührigen Untergrundforscher die Heidelberger Straße vorgenommen, wo es mehr versuchte und mehr erfolgreiche Stollen gab als sonst irgendwo in der geteilten Stadt.

Spurensuche im Jahr 1961

Beteiligt an den Recherchen war der frühere Fluchthelfer Burkhart Veigel, der das beste Buch über diese Form von Widerstand gegen die SED-Diktatur geschrieben hat ("Wege durch die Mauer". Edition Berliner Unterwelten. 432 Seiten, 19,95 Euro). Er machte Jürgen Dill ausfindig, der wiederum Peter Arndt auftrieb. Gemeinsam gingen sie auf Spurensuche zurück ins Jahr 1962.

Damals steckte Arndt mitten im Abitur. Er hatte eine Freundin im Treptower Ortsteil Johannisthal, die in den Westen wollte. Sie arbeitete wie auch die Freundin seines Bruders als Krankenschwester an der Charité. Über sie lernte er auch Jürgen Dill kennen, dessen Freundin ebenfalls dort beschäftigt gewesen war, bis er sie mit einem falschen Pass nach West-Berlin geholt hatte.

Gemeinsam planten die drei jungen Männer, die beiden Mädchen und fünf weitere Verwandte und Freunde in die Freiheit zu holen. Sie entschieden sich für den Bau eines Fluchttunnels und machten, wie einige andere Fluchthelfergruppen, die Heidelberger Straße als geeigneten Ort aus. Denn dort war der Grenzstreifen mit nur rund 18 Metern ungewöhnlich schmal, deshalb musste nicht sehr weit gegraben werden.

Alle zwanzig Minuten wurden sie ausgewechselt

In der nahegelegenen Eckkneipe "Heidelberger Krug" lernte Jürgen Dill einen jungen Mann kennen, der in der zweiten Etage des Hauses Heidelberger Straße 36 wohnte und ihm den Keller zeigte. Möglicherweise wurde den Tunnelgräbern aber genau dieser Kontakt später zum Verhängnis.

In einem selten betretenen Gelass zwei Meter unter Straßenniveau begannen die Männer ihre heimliche Tätigkeit. Unter dem Estrich fanden sie verdichteten Schutt. Das Graben war mühsam, die drei arbeiteten nur mit einer Schaufel und einem Spaten und mussten ständig darauf bedacht sein, keinen Lärm zu machen. Den Aushub zogen sie in einer Baby-Badewanne aus Plastik aus dem Stollen und türmten ihn in dem kleinen Kellerraum auf. Bis zur Decke reichte der Erdhaufen bald.

Auch das Atmen fiel immer schwerer: Der Sauerstoff in dem engen Gang wurde ständig knapp, nach 20 Minuten Graben mussten sie einander abwechseln. Aus Angst, entdeckt zu werden, verließen sie den Raum so wenig wie möglich, aßen und schliefen hier.

Zum Schein wurde eine Band gegründet

Zur selben Zeit liefen in Ost-Berlin die Vorbereitungen für die Flucht. Die sieben Fluchtwilligen erwiesen sich als besonders kreativ: Sie gründeten zum Schein eine Jazz-Band, mit der sie in einem Raum auf dem alten Fabrikgelände probten, auf dem der Stollen enden sollte. Als Fluchttermin war deshalb ein Montag vorgesehen, der 2. Juli 1962.

Doch soweit kam es nicht: Drei Tage vor dem Stichtag glaubten die Fluchthelfer, ihren Tunnel weit genug vorgetrieben zu haben. Sie öffneten vorsichtig ein kleines Loch nach oben, steckten einen Spiegel hindurch, um einen Rundblick zu nehmen – und sahen direkt auf die Stiefel eines DDR-Polizisten.

Ihr Plan war entdeckt worden. Eilig krochen die gescheiterten Fluchthelfer zurück und brachen ihr Vorhaben ab. Ob ein Spitzel sie verraten hatte oder sich der Bürgersteig über dem Tunnel abgesenkt hatte und die Stasi aufmerksam machte, lässt sich nicht klären. Später fanden sie allerdings heraus, dass der Vater des jungen Mannes aus dem zweiten Stock Mitglied des West-Berliner Ablegers der SED war. Er könnte sie denunziert haben.

"Ich verzeihe den Spitzeln"

Offenbar wusste das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aber nicht, wer hinter dem Fluchttunnel aus dem Haus Heidelberger Straße 36 steckte. Die sechsseitige MfS-Dokumentation über den Tunnel nennt keine Namen. Und Dills Stasi-Akte bringt ihn nicht mit der Heidelberger Straße in Verbindung. Peter Arndt hat seine Akte nie eingesehen, er möchte nicht wissen, wer ihn verraten haben könnte. "Ich verzeihe den Spitzeln", sagt er.

Nach dem Scheitern ihres Vorhabens trennten sich die drei Tunnelbauer umgehend. Dill und Arndt hatten bis 2011 keinen Kontakt mehr – zu groß war die Angst, man könnte ihnen auf die Schliche kommen. Aber nicht nur MfS-Spitzel fürchteten sie. Später überwog bei Arndt die Sorge, für die Schäden in dem Keller aufkommen zu müssen.

Das war freilich unbegründet. Das Gelass mit Erd- und Schutthaufen wurde fast 50 Jahre lang praktisch nicht betreten. Als Dill und Arndt im Dezember 2011 erstmals wieder hierher kamen, fanden sie es unverändert vor. Sogar Kleidungsstücke, Flaschen und andere Gegenstände lagen noch herum wie Ende Juni 1962. Erst für die erstmalige öffentliche Vorführung des Tunneleinstiegs haben die Berliner Unterwelten den Raum weitgehend vom Aushub befreit.

Sechs der sieben Mitglieder der fluchtwilligen Ost-Berliner "Jazz-Band" gelangten trotz des aufgeflogenen Stollens bald in den Westen: Fluchthelfer holten sie mit westdeutschen Pässen über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Peter Arndts Freundin aber blieb freiwillig im Osten – sie hatte eine neue Liebe gefunden.>

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27.6.2012: Fluchtversuch an der Sebastianstrasse 1962 wurde verraten - toter Flüchtling - Querschläger verletzen Stasi-Leute schwer

Fluchttunnel
                Berlin-Sebastianstrasse 1962  Berliner
                Mauer an der Sebastianstrasse 1962
Fluchttunnel an der Berliner Mauer an der Sebastianstrasse 1962

aus: Welt online: Archivfund: Die Stasi-Leute rannten in ihre eigene Todes-Falle; 27.6.2012;
http://www.welt.de/kultur/history/article106817012/Die-Stasi-Leute-rannten-in-ihre-eigene-Todes-Falle.html

<Freigegebene Verhörprotokolle über eine gescheiterte Tunnelflucht von 1962 entlarven den Spitzel, der alles verriet. Der Versuch der Stasi, die Beteiligten zu stellen, endete in einem Blutbad.

Von Sven Felix Kellerhoff

Freigegebene Verhörprotokolle über eine gescheiterte Tunnelflucht von 1962 entlarven den Spitzel, der alles verriet. Der Versuch der Stasi, die Beteiligten zu stellen, endete in einem Blutbad.

Wer sieben Schussverletzungen hat, ist auf jeden Fall schwer verwundet. Umso mehr, wenn es sich bei einer davon um einen äußerst schmerzhaften Lungensteckschuss handelt. Die Vernehmer der DDR-Staatssicherheit jedoch störte das nicht. Obwohl Dieter Hötger derartig verletzt war, befragten sie den festgenommenen Fluchthelfer hart: Das erste offiziell protokollierte Verhör fand nicht einmal fünf Stunden nach seiner Verwundung in einem Ost-Berliner Keller direkt an der innerstädtischen Grenze statt, dem Todesstreifen.

Kurz vor dem 50. Jahrestag der dramatisch gescheiterten Tunnelflucht zwischen Mitte und Kreuzberg hat jetzt die Stasiunterlagen-Behörde auf Antrag von "Welt Online" erstmals die damaligen Verhörprotokolle Hötgers freigegeben, die von der Stasi in einem streng gesicherten Sonderarchiv gelagert worden waren, der "Geheimen Ablage". Bisher bekannt waren nur zusammenfassende Berichte der zuständigen Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie Unterlagen über den Spitzel, der Hötger verraten hatte.

Die Folgen waren für mehr als ein Dutzend Menschen dramatisch: Hötger wurde schwer verletzt und danach jahrelang in der DDR inhaftiert. Doch damit er hatte er es fast noch gut, denn sein Freund und Mitgräber Siegfried Noffke starb sogar am 28. Juni 1962. Elf fluchtwillige DDR-Bürger zwischen 20 und 70 Jahren mussten teilweise für Jahre hinter Gitter und wurden auch nach ihrer Entlassung systematisch in ihrem Leben behindert.

Fluchtstollen hatten Hochkonjunktur

Dass der Spitzel Jürgen Henning selbst, übrigens Bruder einer fluchtwilligen jungen Frau, und der verantwortliche Stasi-Offizier Unterleutnant Herbert Lehmann ebenfalls schwer verletzt wurden, änderte am Schaden so vieler Menschen nichts.

Vor einem halben Jahrhundert hatten Fluchtstollen in der geteilten Stadt Hochkonjunktur. Beinahe jede Woche gelang oder scheiterte im Frühjahr 1962 ein solches Tunnelprojekt. Oberirdisch war die Sektorengrenze in den Monaten seit dem 13. August 1961 bereits massiv verstärkt worden, so dass jeder Fluchtversuch lebensgefährlich war. Unterirdische Wege von Ost nach West wie Kanalisationsrohre und U-Bahn-Schächte wurden beinahe perfekt überwacht.

Also blieben Flüchtlingen nur zwei andere Wege in die Freiheit: Sie konnten einerseits versuchen, mit gefälschten Papieren die DDR zu verlassen – wofür man aber eiserne Nerven brauchte, um die Kontrolleure zu überlisten. Die andere Möglichkeit war ein Stollen, ob nun selbst von Ost nach West gegraben oder von West-Berliner Fluchthelfern ausgeschachtet.

Mielke wollte die Fluchthelfer

Dieter Hötger wollte seine Frau in die Freiheit holen. Deshalb begann er im Mai 1962 vom Haus Sebastianstraße 82 in Kreuzberg aus zusammen mit zwei Bekannten zu graben. Doch nach einigen Tagen stiegen seine beiden Bekannten aus – die Stasi hatte ihre Verwandten in Ost-Berlin festgenommen und so eine erfolgreiche Flucht unmöglich gemacht.

Hötger jedoch wollte nicht aufgeben und fand in Siegfried Noffke einen neuen Helfer; er brauchte einen Fluchtweg für seine Frau und seinen kleinen Sohn. Wochenlang schufteten die beiden in dem Stollen unter dem Todesstreifen – und ahnten nicht, dass ihr Vorhaben längst verraten war.

Denn die Stasi hatte von ihrem Spitzel Henning Details über den genauen Ort, den Zeitpunkt und die fluchtwilligen DDR-Bürger erhalten. Allerdings reichte es den Geheimdienstlern nicht, die Flucht einfach zu unterbinden und die DDR-Bürger für ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit wegzusperren.

Der Unterleutnant begann zu feuern

Erich Mielkes Männer wollten mehr: die West-Berliner Fluchthelfer, tot oder lebendig. Also stellten sie eine Falle. Im Plan zum "Abschluss des Operativvorgang ,Maulwürfe’" legte das MfS fest: "Das Ziel der weiteren Maßnahmen besteht 1. in der Festnahme der Tunnelbauer, 2. Festnahme der Personen, die geschleust werden sollen, 3. Absicherung der Staatsgrenze in diesem Abschnitt, 4. Herauslösen des IM aus diesem Vorgang." Besonders letzteres war wichtig, denn ein erfolgreicher Spitzel war viel wert.

Allerdings vereitelte ausgerechnet der Stasi-Offizier vor Ort dieses Vorhaben – weil ihm die Nerven durchgingen. Am 28. Juni 1962 bald nach 12 Uhr mittags hatten Hötger und Noffke sich von unten an den Kellerboden des Hauses auf Ost-Berliner Seite der Sebastianstraße herangegraben. Mit Klopfzeichen hatte Jürgen Henning geholfen. Mit einem Wagenheber gelang der Durchbruch, und Hötger stieg als erster aus dem Tunnel.

Eine Geldprämie über 3000 DDR-Mark

Gerade als Noffke ihm folgen wollte, stieß Unterleutnant Lehmann die Kellertür auf, vor der er mit seinem Festnahmetrupp stand, und schoss mit einer Maschinenpistole mehrere Garben in den engen Raum. Noffke traf er so schwer, dass er wenig später noch im Tunnelausstieg steckend starb; Hötger und Henning wurden von mehreren Querschlägern getroffen. Auch mindestens zwei von Lehmanns Untergebenen feuerten, sie jedoch mit Kalaschnikows. Der voreilige Offizier wurde schwer, die Hälfte seines Trupps leicht verletzt.

Auch Henning wurde verhört, wenngleich erst einen Tag nach Hötger – obwohl er weniger stark verletzt war. Der Stasi-Vernehmer wusste nicht, dass er einen Spitzel vor sich hatte, und Henning verriet das nicht. Er konnte sich auf seine Auftraggeber verlassen: Zwei Monate später bekam er die "Verdienstmedaille der NVA" in Gold und eine Geldprämie von 3000 Mark der DDR.

Während Dieter Hötger die nächsten zehn Jahre seines Lebens in DDR-Haft saß, kam Henning unmittelbar aus dem Krankenhaus frei, wie die jetzt zugänglichen Akten belegen. Für seinen Verrat und den Schaden, den er damit angerichtet hat, ist er nie belangt worden.>

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Welt
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3.8.2012: Tod von DDR-Flüchtling Peter Fechter an der Berliner Mauer 1962 durch Verbluten - Jubiläumsbuch zum Fall

aus: Welt online: DDR-Flüchtling: Mord an der Mauer – Der Fall Peter Fechter; 3.8.2012;
http://www.welt.de/kultur/article108462198/Mord-an-der-Mauer-Der-Fall-Peter-Fechter.html
Fototexte:

1. 17. August 1962: Grenzposten tragen den leblosen Körper von Peter Fechter weg. Der angeschossene 18-Jährige hatte vor seinem Tod eine gute Stunde um Hilfe gerufen, ohne dass die DDR-Grenzer ihm zu Hilfe kamen.

Peter Fechter verblutet 1962
                an der Berilner Mauer, weil ihm 1 Stunde lang nicht
                geholfen wird
Peter Fechter verblutet 1962 an der Berilner Mauer, weil ihm 1 Stunde lang nicht geholfen wird [6]. Auf dem Foto wird seine Leiche weggetragen.


2. Gegen 23:50 Uhr stellt die Polizei ein Trasparent mit der Aufschrift "Schutzmacht? Morddulder = Mordhelfer" sicher und nimmt die beiden Männer fest, die es tragen. Die simple Gleichung zeigt, ...

3. ... dass sich die Wut nicht mehr nur gegen das SED-Regime richtet, sondern auch gegen die Schutzmächte. Ihr Zögern hat einen empfindlichen Nerv getroffen.

4. Von einem Lautsprecherwagen aus versucht der Regierende Bürgermeister Willy Brandt schliesslich, empörte Westberliner zu beruhigen.>


<Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff haben zum 50. Todestag des prominentesten Maueropfers das Buch "Mord an der Mauer. Der Fall Peter Fechter" verfasst (Quadriga Verlag. 192 Seiten, 19,99 Euro). Bestellung zzt. versandkostenfrei über welt.de/shop oder telefonisch unter 0800/182 72 63.

Der Tod des DDR-Flüchtlings Peter Fechter an der innerstädtischen Mauer führt 1962 dazu, dass es in West-Berlin erstmals seit Kriegsende zu Gewalt mit Alliierten kommt. Willy Brandt muss vermitteln.

Von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff

Hilflosigkeit macht zornig. Vor einem halben Jahrhundert, am 17. August 1962, müssen Hunderte West-Berliner miterleben, wie der angeschossene DDR-Flüchtling Peter Fechter direkt ostwärts der innerstädtischen Grenzmauer verblutet – und können nicht eingreifen. Scheinbar unendliche 50 Minuten dauert es, bis DDR-Grenzposten den Sterbenden bergen. Es folgen die schlimmsten Ausschreitungen in Berlin seit Jahrzehnten.

Hilflosigkeit kann aber auch mutig machen. Für den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (SPD) wird der qualvolle Tod des 18-jährigen Bauarbeiters zum Ausgangspunkt eines grundsätzlich neuen Politikverständnisses, das sein Mitarbeiter Egon Bahr elf Monate später auf die Formel "Wandel durch Annäherung" bringt. Die Erfahrung völliger Machtlosigkeit im Fall Fechter trägt wesentlich zu diesem damals äußerst unpopulären Umdenken bei.

Fechter bricht schwer getroffen zusammen

Es ist genau 14.10 Uhr, als zwei Postenpaare der DDR-Grenztruppen an der Zimmerstraße auf Peter Fechter und seinen Freund Helmut Kulbeik schießen. Während der Freund Mauer und Stacheldraht fast ohne Blessuren überwindet, bricht Fechter schwer getroffen zusammen. West- und Ost-Berliner versuchen sofort, einen Blick auf das Sperrgebiet zu erhaschen. Wissen doch alle Bewohner der geteilten Stadt: Schüsse an der Mauer bedeuten, dass gerade eine Flucht versucht worden und möglicherweise gescheitert ist.

Viele der Ohrenzeugen hören erst Fechters Hilferufe: "So helft mir doch, helft mir doch!" Dann sein Wimmern, schließlich nichts mehr. Doch niemand hilft ihm – nicht die DDR-Posten, nicht die West-Berliner Polizei, nicht einmal US-Soldaten am benachbarten Grenzübergang Checkpoint Charlie. Wut macht sich breit, Wut, die ein Ventil sucht. Immer häufiger, lauter und deutlicher hallt der Ruf "Mörder, Mörder" über die Mauer.

Willy Brandt erfährt von den Schüssen auf Peter Fechter in Bonn, wo er an diesem 17. August 1962 mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) die Lage der Stadt bespricht. West-Berlin drücken wirtschaftliche Probleme, denn ein Jahr nach dem Mauerbau ist das Ausbleiben von rund 60.000 Arbeitskräften aus dem Ost-Teil noch nicht kompensiert. Der Regierende erwartet mehr finanzielle Unterstützung und eine "Eventualplanung", falls die Westalliierten ihr Verhalten den Sowjets gegenüber ändern sollten. Brandt sorgt sich um die Zukunft West-Berlins.

Meinungsverschiedenheiten zwischen Senat und Alliierten

Daher kommt er in Interviews, vor allem im Ausland, stets auf die angespannte Lage und Menschenrechtsverletzungen durch das Grenzregime der DDR zu sprechen. Auch gibt es schon länger Meinungsverschiedenheiten zwischen Senat und Alliierten wegen der Probleme, die sich durch Mauerbau und Teilung ergeben. Als sein Innensenator Heinrich Albertz (SPD) ihn telefonisch vom blutig verlaufenen Fluchtversuch in Kenntnis setzt, kann Brandt ein aktuelles Beispiel anführen.

In den ersten Stunden nach Fechters Abtransport überwiegt in West-Berlin noch ratloses Entsetzen die Empörung. Doch schon am folgenden Morgen kippt die Stimmung. Sämtliche Zeitungen greifen den unglaublichen Vorfall auf. So titelt die "Welt": "Flüchtling niedergeschossen und sterbend liegengelassen"; die "BZ" klagt den "Mord an der Mauer" an. In der Charlottenstraße, die von der Mauer durchschnitten ist, skandieren rund 500 West-Berliner wieder "Mörder, Mörder".

Gegen 17 Uhr halten mehrere Hundert Menschen den Bus der Roten Armee auf, der jeden Tag um diese Zeit über den Checkpoint Charlie sowjetische Soldaten zur Wachablösung ans Ehrenmal im Tiergarten bringt. Es fliegen Steine, zwei Scheiben bersten. Nur in Begleitung zweier Funkstreifenwagen kann der Bus seine Fahrt fortsetzen.

Die Polizei kann solche Zusammenstöße nicht verhindern. Gruppen vor allem Jugendlicher durchbrechen in der Köthener, der Stresemann- und der Wilhelmstraße sowie am Moritzplatz Polizeisperren. Steine fliegen über die Mauer. DDR-Grenzposten reagieren mit Wasserwerfern und Tränengas, und als West-Polizisten die Granaten zurückwerfen, kommt es zu einem regelrechten "Tränengas-Duell". Die "Welt" kommentiert am nächsten Morgen: "Selten war die Erregung der Massen seit dem 13. August 1961 so groß wie an diesen Tagen."

Wut richtet sich auch gegen die Schutzmächte

Gegen 23.50 Uhr stellt die Polizei ein Transparent mit der Aufschrift "Schutzmacht? Morddulder = Mordhelfer" sicher und nimmt die beiden Männer fest, die es tragen. Die simple Gleichung zeigt, dass sich die Wut nicht mehr nur gegen das SED-Regime richtet, sondern auch gegen die Schutzmächte. Ihr Zögern hat einen empfindlichen Nerv getroffen.

Noch glauben der Senat und die Westalliierten, den Protest verbal eindämmen zu können. Am 19. August 1962 warnt Willy Brandt den Osten über das Radio: Niemand solle sich darüber im Unklaren sein, "dass es Grenzen dessen gibt, was wir zu ertragen vermögen". Ein Sprecher der US-Mission versichert: "Wir bemühen uns, einen Weg zu finden, damit bei einer Wiederholung eines solchen Vorfalles den Opfern der ostdeutschen Brutalität geholfen werden kann." US-Stadtkommandant Albert Watson nennt den Sowjets gegenüber Fechters Tod einen "Akt barbarischer Unmenschlichkeit".

Abends versucht Brandt, etwa 5000 Menschen vor dem Rathaus Schöneberg zu beschwichtigen. In den nächsten Tagen schon würden Maßnahmen ergriffen, "um solche schrecklichen Geschehnisse künftig unmöglich zu machen". Zu den Ausschreitungen meint er, man helfe den Landsleuten im Osten nicht, "wenn wir die Existenz West-Berlins leichtfertig aufs Spiel setzen". Deshalb beschwört er seine Zuhörer: "Lasst euch nicht hinreißen, das macht der anderen Seite nur Freude." Auf Zwischenrufe wie "Handeln, handeln" oder "Das Maß ist voll" erwidert Brandt: "Ich will gern handeln, aber ich kann nur handeln in Zusammenarbeit mit unseren westlichen Freunden."

Protestzug am Kurfürstendamm entlang

Viele Zuhörer kann Brandt überzeugen. Sie formieren sich, zusammen mit Passanten und Kinobesuchern, zu einem eindrucksvollen Protestzug den Kurfürstendamm entlang: 20.000 Menschen marschieren untergehakt friedlich über die Straße. Andere sind enttäuscht, denn sie stellen sich die Reaktion der Verantwortlichen anders vor. Einige West-Berliner erstatten Strafanzeige gegen General Watson – wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge.

Manche fordern von Brandt Waffen, um die Mauer zu stürmen. US-Soldaten in ihren Jeeps werden mit Steinen beworfen, ausgepfiffen, mit Fäusten bedroht. Irgendwann verlieren die Militärs die Geduld und treiben die Demonstranten mit aufgepflanzten Bajonetten zurück. Erstmals seit 1945 kommt es in West-Berlin zu Handgemengen mit alliierten Soldaten.

Willy Brandt mahnt erneut. Es ginge nicht, Polizisten zu beschimpfen, Autos in Brand zu stecken, die Schutzmächte zur Heimkehr aufzufordern: "Bleibt bei allem Zorn besonnen!" Zugleich weisen er und sein Innensenator die Polizei an, hart durchzugreifen. Die Beamten errichten rund um den Tatort an der Mauer eine 100 Meter breite Sperrzone. Stacheldrahtrollen werden ausgelegt, Wasserwerfer bereitgestellt und die Einsatzkräfte verstärkt, Rekruten in Alarmbereitschaft versetzt. Junge Bereitschaftspolizisten bekommen klare Anweisungen ihrer Vorgesetzten: "Gummiknüppel in die Hand! Das ist keine Lakritzstange, der ist zum Reinhauen da!"

Verstimmungen auf politischer Ebene wachsen

Am 21. August kehrt in West-Berlin urplötzlich wieder Ruhe ein. Als habe jemand einen Schalter umgelegt, ändert sich die Stimmung. Auf Transparenten von Demonstranten stehen auf einmal Losungen wie: "Demonstriert gegen KZ-Wächter, nicht gegen Polizisten und Amerikaner!"

Während die Anspannung nachlässt, wachsen die Verstimmungen auf politischer Ebene. Offiziell findet die Bundesregierung klare Worte: Fechters erschütterndes Schicksal unterstreiche erneut die Tragik der Teilung Deutschlands und belege die Unmenschlichkeit Ulbrichts. Alle Schandtaten an der Mauer würden festgehalten, wer zur Ermittlung der Fechter-Mörder beitragen könne, solle sich melden.

Intern beklagen sich jedoch immer mehr Politiker, Brandt und sein CDU-Stellvertreter Franz Amrehn lassen "sehr viel Verständnis für die Randalierer" erkennen. Der Senat scheine der Ansicht zu sein, die Volksseele solle zwar nicht "überkochen", müsse aber "am Kochen" gehalten werden.

Brandt weiß, wie er die Regierung aufscheuchen kann

Dem Regierenden Bürgermeister wird das nicht gerecht, denn er will zwar die Not Berlins hinausrufen, zugleich aber Moskau keine Argumente liefern, den Status quo zu ändern. Aber Brandt weiß auch, wie er die Bundesregierung aufscheuchen kann. So fordert er, die "Schande der Mauer und alles, was damit zusammengehört, vor die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen" zu bringen. Diese Forderung schmettert das Kabinett zwar ab; auch zu spürbaren Sanktionen gegen die DDR kann Adenauer sich nicht durchringen.

Angesichts dieser Reaktion stimmt Willy Brandt seine Parteifreunde in West-Berlin auf einen neuen Kurs ein. Die Empörung der West-Berliner sei ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich "mit dem zu beklagenden Opfer an der Zimmerstraße identifizierten". Gleichwohl zeige das Geschehen: Politisches Wunschdenken führe nicht weiter, "juristische Spintisiererei" schon gar nicht. Es gehe nun darum, sich stärker um Verbesserungen im "Personenverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt" zu bemühen. Denn, so stellt der Regierende Bürgermeister fest: "Das Wohl der Stadt steht höher als der Hass gegen die Mauer. Die Mauer muss weg, aber bis dahin muss Berlin mit ihr leben." Es ist der Beginn der Entspannungspolitik.>

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12.8.2012: Als die Mauer in Berlin den Schulweg versperrte

aus: "Berlin - Geteilte Stadt"Als die Mauer den Schulweg versperrte; 12.8.2012;
http://www.n-tv.de/leute/buecher/Als-die-Mauer-den-Schulweg-versperrte-article6940296.html

<Für Spontane: An diesem Montag, 13. August, ab 20.30 Uhr stellen die Autoren von "Berlin - Geteilte Stadt" ihr Buch bei einer Lesung in der Buchhandlung Ocelot in der Berliner Brunnenstraße 181 (Mitte) vor. Der Eintritt kostet 5 Euro, ermäßigt 3 Euro. Mehr Infos auf der Webseite der Buchhandlung.

Von Markus Lippold

Regina Zywietz will ihr Abitur machen. Doch am 13. August 1961 versperrt ihr die Mauer den Weg zur Schule. Wie Millionen andere Menschen wird sie eingesperrt in einem diktatorischen System. "Berlin - Geteilte Stadt" erzählt von solchen persönlichen Schicksalen und ermöglichst damit neue Blickwinkel auf den Mauerbau vor 51 Jahren.

Regina Zywietz hofft zunächst noch, dass die Grenzen wieder geöffnet werden.

Was wäre, wenn heute noch einmal eine Mauer in Berlin gebaut würde, dort, wo jahrzehntelang die scharf bewachten Grenzanlagen zwischen Ost- und Westberlin waren? Welche Freunde, Verwandten, welche Geliebten würden plötzlich im anderen, unerreichbaren Teil der Stadt leben? Könnte man noch seine Schule besuchen, seine Universität? Würde das Büro nicht hinter der Mauer liegen, der eigene Arbeitsplatz über Nacht in einem anderen Land? Was wäre, wenn diese Mauer nicht Berlin zerteilen würde, sondern irgendeine Stadt in Deutschland? Völlig willkürlich.

Genau diese Erfahrung von Willkür machen Millionen Menschen am Morgen des 13. August 1961. Die noch durchlässige Berliner Grenze zwischen Ost und West ist plötzlich abgeriegelt und von bewaffneten Soldaten bewacht. Für Regina Zywietz ergibt sich daraus ein ganz praktisches Problem: Sie lebt im Osten, ihre Schule liegt im Westen. Sie steht kurz vor dem Abitur - aber wie soll sie ihre Prüfungen ablegen, wenn sie nicht mehr wie bisher die Grenze passieren kann? Unterstützt von ihren Lehrern plant sie die Flucht. Ein gefährliches Unterfangen, das viele Menschen das Leben kostet.

Regina Zywietz ist eine von fünf realen Menschen, die in dem Buch "Berlin - Geteilte Stadt (Avant-Verlag) vorgestellt werden. Sie alle eint, dass sich ihr Leben mit dem Bau der Mauer grundlegend verändert. Ihre wahren Schicksale stehen damit exemplarisch für Millionen Menschen in ganz Deutschland. Susanne Buddenberg und Thomas Henseler haben jene fünf Zeitzeugen - darunter eine Familie - befragt und ihre Geschichten zu einem Comic verarbeitet. Nach "Grenzfall" ist es bereits ihr zweites Buch, das sich mit dem geteilten Deutschland beschäftigt. Erneut wurden sie dabei von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt.

Tränenpalast und Brandenburger Tor

Erzählt wird etwa von Ursula Malchow, die im West-Berliner Lazarus-Krankenhaus an der Bernauer Straße arbeitet. Dort wird sie nicht nur Zeuge mehrerer Fluchtversuche, sondern auch von tödlichen Schüssen auf die Flüchtenden.

Ein weiteres Kapitel schildert die abenteuerliche Flucht von Familie Holzapfel, die mit einer selbst gebauten Seilbahn die Mauer überwindet. Detlef Matthes erlebt in den 80er Jahren die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung, aber auch die Repressalien des Staates am eigenen Leib. Abschließend wird Jan Hildebrandt (den Sohn der Politikerin Regine Hildebrandt) an seinem 18. Geburtstag begleitet - es ist der 9. November 1989.

Familie Holzapfel flieht per Seilbahn in den
                Westen. Comic-Darstellung.
Familie Holzapfel flieht per Seilbahn in den Westen. Comic-Darstellung. (Foto: Buddenberg/Henseler/Avant-Verlag 2012)

Die fünf Kapitel spielen nicht nur in verschiedenen Zeiträumen, die sich immer weiter vom Tag des Mauerbaus entfernen - Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte. Gleichzeitig stellen sie verschieden Orte vor, die eng mit der Teilung der Stadt verbunden sind. Da ist etwa der Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße. Die Ausreisehalle wird für einige Menschen zum Tor in den Westen und in die Freiheit, gleichzeitig ist sie Ort des Abschieds von Freunden und Verwandten.

An der Bernauer Straße direkt an der Mauer versuchen viele Menschen vor allem in den 60er Jahren, in den Westen zu gelangen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit dem Brandenburger Tor, das zum Symbol der geteilten Stadt wird. Schließlich rückt der Grenzübergang an der Bornholmer Straße in den Mittelpunkt, wo am 9. November 1989 Hunderte Menschen die Grenze passierten und in den Westen gelangten.

Der Wechsel der Zeiträume und Handlungsorte erlaubt es, das Thema aus ganz verschiedenen Perspektiven zu erleben. Denn die Konfrontation mit der Mauer ist 1961 natürlich eine ganz andere als in den 80er Jahren, als die deutsche Teilung für viele Menschen zur sicheren Gewissheit geworden war. Die Stärke des Buches ist dabei, dass es den großen Schrecken der Mauer in ganz persönlichen Geschichten wieder ins Bewusstsein ruft. Dieses Betonband, das eine Stadt zerschnitt, war kein "antifaschistischer Schutzwall", sondern die Außenmauer eines Gefängnisses. Durch den Mauerbau wurden Lebensläufe von einem auf den anderen Tag zerstört, Familien und Freundschaften wurden zerrissen, Menschen wurden erschossen, weil sie in die Freiheit fliehen wollten.

Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist, dass auch Menschen gezeigt werden, die den Mut aufbrachten, dem Regime die Stirn zu bieten. Sei es, weil sie in den Westen flohen. Sei es, weil sie am Brandenburger Tor der Musik eines Open-Air-Konzerts im Westteil der Stadt lauschten. Sei es, weil sie Repressalien gegen Demonstranten dokumentierten. Das Buch bietet hier einen kleinen Einblick in das Leben der DDR mit all seinen Widersprüchen.

Interessante Details und neue Perspektiven

Zeichnerisch kann das Buch dagegen nicht ganz überzeugen. Figuren und Hintergründe sind mit klarer Linie gezeichnet und vermitteln so einen authentischen und historisch korrekten Eindruck. Gleichzeitig wirkt das aber steril und zu sachbuchartig, was durch die Schwarz-Weiß-Zeichnungen verstärkt wird. Zudem sind die Figuren überwiegend starr, unbeweglich und wenig dynamisch dargestellt, was den emotional aufwühlenden Situationen, in denen sie sich befinden, die Spannung und den Realismus nimmt. Zudem wirken die Gesichter oft gleich, was auf Dauer eher langweilt. Auch bei der Panelaufteilung, dem Layout der Seiten, hätten die Macher etwas mehr Mut beweisen können.

Wem also ist das Buch zu empfehlen? In erster Linie wendet es sich wohl an Schüler und Jugendliche, die das geteilte Deutschland nicht mehr bewusst selbst erlebt haben. Das erkennt man einerseits an den vielen Erklärungen in den Comicteilen, aber auch an den historischen Texten, die jedes Kapitel abschließen und Hintergründe vom Mauerbau bis zum 9. November 1989 noch einmal vertiefen. Zudem werden hier Hinweise auf heutige Gedenkstätten entlang der Mauer gegeben. Doch auch für diejenigen, die das geteilte Deutschland und die Mauer selbst erlebt haben, lohnt ein Blick in das Buch. Denn in den persönlichen Erinnerungen von Betroffenen verstecken sich manch interessantes Detail und neue Perspektiven.

Quelle: n-tv.de>

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Spiegel
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28.12.2012: Flucht mit dem selbstgebauten Panzerbus an Weihnachten 1962 - und weitere Panzerfahrzeuge als Flucht vor der DDR

aus: Spiegel online: Spektakuläre DDR-Flucht Grenzdurchbruch im Panzer, Marke Eigenbau; 28.12.2012;
http://einestages.spiegel.de/s/tb/26361/hans-weidner-und-seine-ddr-flucht-im-selbstgebauten-panzerwagen.html

<Zerborstene Scheiben, verstärkte Front: Der Kleinunternehmer Hans Weidner (rechts) posiert zusammen mit seinem Mitarbeiter Jürgen Wagner vor ihrem "Panzerbus". Gemeinsam mit ihren beiden Familien hatten sie drei eiserne Schlagbäume weggerammt und waren in den Westen durchgebrochen.

Eiserne Schlagbäume knickten ab, Schüsse fielen, doch Jürgen Wagner trat weiter aufs Gas: In einem selbstgebauten Panzerbus rasten Weihnachten 1962 zwei Familien durch die Grenzanlagen in Richtung West-Berlin. Die vier Kinder in der rollenden Festung ahnten nichts von dem lebensgefährlichem Plan.

Von
Peter Maxwill

Es war ein unwirtliches Weihnachtsfest für die Genossen der DDR-Grenzsicherung. Die Temperatur an der Übergangstelle Drewitz/Dreilinden zwischen Berlin und Potsdam war am frühen Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags 1962 auf 20 Grad unter null gefallen. Gegen 5.30 Uhr dröhnte plötzlich Sirenengeheul aus Richtung Ost-Berlin, ein Suchscheinwerfer tauchte den verschneiten Wachposten in gleißendes Licht. Dann sahen die herbeigeeilten Grenzer einen röhrenden Koloss auf sich zurasen, vor dessen Motorhaube ein stählener Rammbock montiert war.

Das seltsame Gefährt war ein klappriger Omnibus, Baujahr 1941 - auf den ersten Blick jedenfalls. Denn die beiden Männer im Führerhaus hatten daraus in monatelanger Arbeit nichts anderes als einen massiven Panzerwagen gemacht, mit einem beachtlichem Gewicht: Abgesehen von Dutzenden Stahlplatten waren an Bord des Busses, Marke Vomag, zwei Familien mit Kindern. Nun fuhr dieses Ungetüm mit Vollgas auf eine der bestbewachten Grenzen der Welt zu, das Ziel direkt vor Augen: West-Berlin.

Im Führerhaus saßen der Fuhrunternehmer Hans Weidner und sein Fahrer Jürgen Wagner, gemeinsam hatten sie den Frontalangriff geplant. Der tollkühne Fluchtversuch vor 50 Jahren, wie ihn der Journalist Bodo Müller für das Buch "Faszination Freiheit. Die spektakulärsten Fluchtgeschichten" rekonstruiert hat, war in monatelanger Arbeit perfekt durchgeplant.

Rollende Festung mit Stahlmantel und Scharten

Dabei wollte der schwer kriegsbeschädigte Weidner laut Journalist Müller ursprünglich gar nicht aus dem Arbeiter- und Bauernstaat fliehen. Zu sehr hing er an seinem Heimatörtchen Neugersdorf in der Oberlausitz, wo der Berufstätige im Bus zur Arbeit fuhr. Erst die Einführung der sozialistischen Planwirtschaft machte aus dem Kleinunternehmer auf Krücken einen verwegenen Republikflüchtling: Seit sein florierendes Busunternehmen für Unmut beim staatlichten Betrieb Kraftverkehr Zittau sorgte, war Weidner den Funktionären von SED und Stasi ein Dorn im Auge. Immer wieder wurde der 40-Jährige zu Aussprachen beordert, schließlich drohte man ihm sogar mit dem Entzug seiner Konzession. Da reichte es Weidner.

Im Januar 1962 schlug er seinem Mitarbeiter Jürgen Wagner die Flucht in den Westen vor. Der sagte sofort zu, gemeinsam beschlossen beide die Flucht ihrer Familien - und zwar im Bus. Als Tag x wählten sie Heiligabend: Möglichst wenige Menschen sollten unterwegs sein, außerdem ließ sich die Busfahrt quer durch die DDR so ideal als Weihnachtsausflug tarnen. Das größte Problem für die Fluchtvorbereiter war jedoch die Mauer mit ihren schwerbewaffneten Bewachern: Selbst wenn der Fluchtbus bis in den Westen rollen würde, überleben würden die Familien den Kugelhagel am Grenzübergang wohl kaum. So beschlossen Weidner und Wagner, den Vomag-Bus für 60 Passagiere in einen Panzer für acht Ausbrecher zu verwandeln.

Doch die Beschaffung kugelsicherer Metallplatten erwies sich in der DDR-Planwirtschaft als schwierig, wie Weidners Sohn Wolfgang Jahrzehnte später dem Magazin "Neon" berichtete: Monatelang reiste der Fuhrunternehmer unter stets neuen Vorwänden durchs Land, um neun Millimeter dicke Brunnenabdeckungen aus Stahl zu besorgen: Heimlich schraubten und schweißten die Panzerbauer daraus einen kugelsicheren Stahlschutz um Motor, Führerhaus, Fahrgastraum. Sogar an Schutzabdeckungen für die Reifen dachten sie. Platte für Platte wurde so aus dem 150-PS-Bus eine rollende Festung mit Sichtscharten.

Als die heimlichen Umbauten immer offensichtlicher wurden, meldete Weidner den Bus wegen angeblicher Reparaturarbeiten beim zuständigen "Volkseigenen Betrieb" ab. Am 24. Dezember packten die Familienväter ihren stählernen Umzugswagen und brachen mit ihren Familien auf. Ihr Ziel: Weihnachtsurlaub in Thüringen. Das dachten jedenfalls Nachbarn, Freunde - und die Kinder.

Kugelhagel aus Kalaschnikows und Pistolen

Stattdessen steuerte Busfahrer Wagner den Koloss anderthalb Tage und 250 Kilometer später auf den Grenzübergang Drewitz/Dreilinden zu. Rammbock, die Panzerung der Windschutzscheiben und die Schutzabdeckungen für die Reifen hatten sie erst kurz vor der Grenze installiert, um unbemerkt an den Ort ihrer Bestimmung zu kommen. Den Grenzübergang hatte Wagner gewählt, weil es der einzige war, vor dem eine schnurgerade Strecke das Fahren mit Vollgas ermöglichte. Drei eiserne Schlagbäume und gut zwei Kilometer trennten die Familien jetzt noch von West-Berlin. Zwei Pannen mit langwierigen Reparaturen und eine kalte Winternacht hatte die Gruppe bereits überstanden. Jetzt ging es um alles.

Während die Frauen und Kinder im Fahrgastraum auf dem Boden kauerten, donnerte der rollende Rammbock krachend durch den ersten Schlagbaum, Kugeln aus drei Kalaschnikows und sechs Pistolen schlugen in den Stahlpanzer, die zweite Straßensperre brach weg, wieder Schüsse, schließlich Grenzschranke drei. Dann herrschte Ruhe. Erst nach gut zwei Kilometern brachte Fahrer Wagner den Bus an der West-Berliner Grenzstation zum Stehen, Hans Weidner schwang sich auf seinen Krücken nach draußen. Seine erste Frage an die Grenzpolizisten der Bundesrepublik: "Sind wir jetzt in Freiheit?"

[14.11.1961: Weitere Fluchten im selbstgebauten Panzerwagen]

Das waren sie. Kein Wunder, dass es nicht die einzige Flucht mit einem selbstgebauten Panzerwagen war.

So fuhr bereits am 14. November 1961 ein Opel P4 auf den DDR-Grenzkontrollpunkt Chausseestraße in Berlin zu. Eine Flucht durch Schranken oder gar die Berliner Mauer war mit dem rostroten Wagen unmöglich, daher umkurvte das Auto unter dem Kugelhagel der Volkspolizisten die Betonsperren und schlitterte im Slalom Richtung Freiheit. Alle Passagiere, zwei Männer und drei Frauen, überlebten die Aktion unbeschadet: Sie hatten die hohlen Türen mit Beton ausgegossen, den Fond mit Eisen ausgekleidet und hinter der Windschutzscheibe eine Schutzplatte mit Sichtlöchern angebracht.

[12.5.1963: Panzerplatte von Hand gehalten - hat nicht gehalten]

"Die haben gezielt geschossen"

Doch nicht immer ging das Konzept "Panzerwagen Eigenbau" auf. Als am 12. Mai 1963 ein schwerer Reisebus den Grenzübergang Invalidenstraße durchbrechen wollte, scheiterte der Versuch - einen Meter entfernt von der Freiheit. Zwar waren die Flüchtlinge im Fahrgastraum mit zwölf Millimeter dicken Blechen vor Kugeln geschützt. Doch vorne im Bus hielt Beifahrer Manfred Massenthe die schützende Stahlplatte hinter der Frontscheibe nur mit bloßen Händen fest. Als er, unerwartet von Pistolenschüssen getroffen, die Platte nicht mehr halten konnte, durchlöcherten vier Kugeln den Fahrer - der daraufhin den Bus gegen eine Betonsperre lenkte.

[17.3.1963: Flucht mit einem echten Panzer durch die Mauer]

Der konsequenteste Panzer-Flüchtling war wohl Wolfgang Engels: Der 19-Jährige baute sich keinen Kampfwagen nach, sondern besorgte sich kurzerhand einen echten - als Zivilangestellter der "Nationalen Volksarmee" für ihn kein großes Problem: Mit einem geklauten Schützenpanzerwagen rollte der Kraftfahrer am Abend des 17. April 1963 durch Berlin und über Stacheldrahtverhaue und Betonsperren hinweg direkt in die Mauer. Obwohl der Wagen dort steckenblieb und Engels beim Aussteigen von DDR-Grenzern angeschossen wurde, rettete er sich in den Westen. Seine Flucht im Panzer war die spektakulärste ihrer Art. Das größere Medienecho hatten jedoch die Familien Wagner und Weidner vier Monate zuvor ausgelöst.

Schon einen Tag nach der geglückten Flucht stellte sich Hans Weidner am 27. Dezember 1962 im Flüchtlingsdurchgangslager Marienfelde vor westliche Journalisten und plauderte von der waghalsigen Flucht: "Die haben gezielt geschossen, denn direkt an meiner Fahrertür ist in Sitzhöhe ein Schuss eingeschlagen", sagte er dem Radiosender RIAS - und fügte stolz hinzu: "Aber der hat mich nicht erreicht, weil wir uns da ja abgesichert hatten." Die Flucht im selbstgebauten Panzer war so spektakulär, dass sie kurz darauf sogar die Westberliner Schutzpolizei in ihrem monatlichen Lagebericht erwähnte. Prädikat: "besonders bemerkenswert".

Bodo Müller: "Faszination Freiheit. Die spektakulärsten Fluchtgeschichten". Christoph Links Verlag, Berlin 2008, 224 Seiten.>

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Quellen
[1, 2, 3, 4] http://www.welt.de/kultur/history/article13497726/Flucht-im-Handschuhfach-eines-Cadillacs.html
[5] http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/23561/wer_sabotierte_die_stasi.html
[6] Fluchtversucht Tunnel Sebastianstrasse: http://www.welt.de/kultur/history/article106817012/Die-Stasi-Leute-rannten-in-ihre-eigene-Todes-Falle.html
[7] Peter Fechter verblutete 1962 an der Berliner Mauer, Leiche wird weggetragen: http://www.welt.de/kultur/article108462198/Mord-an-der-Mauer-Der-Fall-Peter-Fechter.html

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